10 - Das Kloster Der Toten Seelen
einem fürchterlichen Kreischen nach vorn direkt auf Fidelmas Kopf zu.
»Runter!« schrie Eadulf und schleuderte die Metallscheibe. Es war fast ein perfekter Wurf. Mitten in der Luft traf die Scheibe den springenden Schatten. Ein gellender Schrei erscholl, furchtbarer als der erste. Das Ungetüm schien sich zu drehen, mitten im Sprung seine Richtung zu ändern.
In dem grauen Licht des Fensters, gegen das es nun mit voller Wucht prallte, konnten sie kurzzeitig die Umrisse einer riesigen Katze erkennen. Sie war schwarz und gelbgrau gestreift und mehr als einen Meter lang. Sie fiel auf das Fensterbrett, verharrte dort kurz, sprang mit einem Fauchen durch eine Öffnung und war verschwunden.
Eadulf wandte sich Fidelma zu. Sie stand zitternd an einen Tisch gelehnt.
»Was war das?« fragte sie und versuchte, ihre Haltung wiederzugewinnen.
»Eine Wildkatze.« Eadulfs Stimme klang erleichtert. »Es kommt selten vor, daß sie Menschen angreifen. Normalerweise ernähren sie sich von Kaninchen, Hasen und kleinen Nagetieren. Sicher fühlte sie sich in die Enge getrieben.«
Fidelma schüttelte ungläubig den Kopf. »Doch ihre Größe … Ich weiß, daß es wilde Katzen gibt, aber …«
Eadulf lächelte, konnte er doch endlich mal ihr gegenüber ein wenig großspurig tun.
»Es handelt sich nicht um eine Hauskatze, die verwildert ist. Diese Katzen hier gehören zu einer anderen Art, sie sind von Natur aus größer, und sie sind gefährlicher, wenn sie in Bedrängnis geraten. Nur selten wagen sie sich aus den Wäldern heraus. Sie sind eher Jäger als Aasfresser. Gibt es in den fünf Königreichen keine Wildkatzen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wildlebende Katzen gibt es schon, aber nicht solche Monstren wie diese.«
»Sie ist sicher hier eingedrungen, weil sie Nager jagen wollte. Hier wimmelt es nur so davon«, sagte Eadulf beinah ausgelassen.
Vor erklärbaren Bedrohungen hatte er keine Angst. Doch vor allem Übernatürlichem fürchtete er sich wie ein kleines Kind. Innerlich mußte Fidelma lächeln. Bei ihr verhielt es sich genau umgekehrt. Was hatte ihr Mentor Brehon Morann immer gesagt? Die Natur schafft merkwürdige Dinge.
»Wollen wir hoffen, daß uns nicht noch mehr solche Ungeheuer über den Weg laufen«, sagte sie. »Eadulf, halte noch einmal die Kerze hierher.«
Erneut inspizierte Fidelma aufmerksam das getrocknete Blut.
»Ich bin mir sicher, daß jemand mit diesem Messer erstochen worden ist und hier viel Blut verloren hat.«
Sie bat Eadulf, mit der Kerze über den Fußboden zu leuchten. Dann holte sie zufrieden Luft.
»Eine Blutspur. Wir wollen mal sehen, wo sie hinführt.«
Sie folgten den vereinzelten Blutstropfen aus dem Refektorium hinaus. Das war nicht gerade einfach, denn zwischen den wenigen Flecken lagen große Abstände. Fidelma mußte lange nach dem nächsten suchen, um der Fährte nachzugehen.
Auf einmal waren sie in der Kapelle angelangt.
»Ich schätze, daß die Spur zum Sarkophag dort führt.« Fidelma blieb stehen. Auch in der Kapelle war es finster. In ihrem Mittelgang, direkt vor dem Hauptaltar, stand ein Steinsarg. Er war schön geformt und aus einem blaugrauen grobkörnigen Felsgestein gehauen, so viel konnten sie mit Hilfe von Eadulfs Kerze erkennen. Der längliche Sarg erhob sich ungefähr einen Meter über den Steinboden, an Kopf- und Fußseite befanden sich winzige Säulen. Oben auf dem Sarg war in lateinischer Sprache zu lesen: Hic iacit Paternus.
»Das Grab des heiligen Padern, Gründer dieses Klosters«, murmelte Fidelma. »Auch hier gibt es Blutspuren.« Sie zeigte auf den Sargdeckel.
Eadulf sah, daß sie recht hatte. Auf den Steinplatten und an der Seite des Sarges waren Blutspritzer. Fragend blickte er Fidelma an.
»Ich schätze, wir müssen hineinschauen, was?«
Fidelma ließ sich nicht zu einer Antwort herbei. Sie untersuchte den Deckel des Sarkophags. »Ich glaube, man kann ihn seitlich aufschieben«, erklärte sie. »Sieh doch mal nach, wo der Stein besonders glatt ist.«
Widerstrebend nickte Eadulf. Er stellte die Kerze ab und packte mit beiden Händen den Grabdeckel an, um zu prüfen, ob er sich bewegen ließ. Zu seiner Überraschung ging das ganz leicht. Zufrieden blickte er auf.
Fidelma nickte rasch.
Eadulf packte noch einmal zu. Die Steinplatte ließ sich mühelos zur Seite schieben.
Sofort stieg ihm Verwesungsgestank in die Nase. Doch er konnte ihn besser ertragen als den Geruch der faulenden Speisen im Refektorium.
Fidelma spähte neugierig in den
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