100 Tage Sex
- nur daheim wollten wir es nicht haben. Aus Erfahrung - früher hatten wir Kabelfernsehen abonniert - wussten wir, welche Macht es über uns ausübte. Es lenkte Annie und mich von Dingen ab, die wir für wichtiger hielten, zum Beispiel vom Lesen. Wir fürchteten, fernsehsüchtig zu werden.
Im Hotel erlagen wir schnell dem großen Zauber von Kabelfernsehen - der Riesenauswahl an leichter Unterhaltung - und versanken beide in einen Zustand tiefster Entspannung. Ich hatte schier das Gefühl mich aufzulösen, mit der Matratze zu verschmelzen. Vielleicht wäre ich zu einem Klumpen Fleisch, Blut und Knochen geschmolzen, wenn ich nur lang genug geblieben wäre.
»Lust, bisschen aktiver zu werden?«, fragte Annie schließlich mit einem Zwinkern.
Ich drehte mich zu ihr und griff in ihren Bademantel, berührte ihre warme Brust.
»Klingt nach einem guten Plan«, antwortete ich. Zehn Minuten stöhnten und turnten wir herum, dann ließen wir es gut sein. An diesem 49. Tag kam keiner von uns zum Orgasmus. Danach schalteten wir den Fernseher wieder ein.
»Das war nicht gerade der Reißer, was?«, fragte Annie, während wir beide einer Frau auf dem Kochkanal zusahen, wie sie Trauben halbierte.
»Nö.«
»Hoffentlich bist du jetzt nicht beleidigt, aber mir hat’s nicht besonders gefallen«, sagte Annie.
»Ging mir genauso«, bestätigte ich. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, im Luxus zu schwelgen. War zu entspannt.«
»Ich auch«, sagte Annie.
»Trotzdem toll, hier zu sein«, erklärte ich und legte ein ansehnliches Stück Gouda auf eine Scheibe Baguette.
»Der Sex hat’s nicht gebracht, aber das Stimmungswochenende gefällt mir.«
Auf der Fahrt zum Hotel hatten wir einen Anruf von guten Freunden aus Baltimore erhalten. Auch sie waren unterwegs zu einem Hotel, ohne Kinder. »Das machen wir jede Saison«, erzählten sie uns. »Wir nennen es ›Stimmungswochenende‹.«
Wir erlebten ein herrlich dekadentes Wochenende mit Essen im Bett, Trinken im Bett, Lesen im Bett, Fernsehen im Bett, Sex im Bett. So was Ähnliches hatten wir im Grunde auch früher schon gemacht. Entscheidend war dabei, Zeit allein miteinander zu verbringen, gerne auch an einem fremden Ort. Dann gingen wir fein essen, ins Kino oder unternahmen einfach nur lange Spaziergänge. Im Jahr vor dem Sex-Marathon etwa hatten Annie und ich unseren zehnten Hochzeitstag in Aspen gefeiert, während meine Mutter daheim auf die Kinder aufpasste. Und jetzt lümmelten wir am Tag 49 unseres Sexabenteuers im Bett herum. Angesichts der Menge an Sex, die wir in letzter Zeit bekommen hatten, stand die Erotik an diesem Wochenende nicht im Vordergrund.
»Die Auszeit haben wir gebraucht«, meinte Annie, ein Glas Rotwein in der Hand. Zwischen uns lag ein Schneidbrettchen
mit Käse und Salzcrackern. »Auch wenn wir es dieses Jahr schon ein paarmal geschafft haben, von daheim wegzukommen.«
»Genau«, stimmte ich ihr zu. »Las Vegas, das war Arbeit. In Wyoming störte der Sessel, und der Aschram war zwar toll, aber natürlich nicht so luxuriös. Ich genieße jede Minute hier im Hotel.«
Wir aßen den Käse auf, legten das Schneidbrettchen weg und rückten zusammen. Annie schlang ein Bein über meines, unsere Schultern berührten sich.
9
Das singende Herz
AM NÄCHSTEN MORGEN FÜHLTE ICH mich wie ein Mann von Welt: Ich lag im Bett eines edlen Hotels und bestellte zwei doppelte Cappuccini beim Zimmerservice. Sie kamen auf einem Silbertablett. Ich unterschrieb den Bon für die Getränke - 25 Dollar. Schluck! Annie, unsere Schatzkanzlerin, reagierte entsetzt, als sie die Quittung sah.
»Der Preis für die Übernachtung war ja echt fair«, sagte sie - 149 Dollar für ein sehr schönes Zimmer (Annie hatte beim Einchecken erreicht, dass wir in eine höhere Zimmerkategorie eingestuft wurden; sie ist nicht nur Schatzkanzlerin, sondern auch Außenministerin). »Aber das hier ist lächerlich.«
Wir waren nicht reich. Acht Jahre lang hatten wir ausschließlich von meinem Gehalt gelebt; zwei Jahre davon hatte ich noch nebenher als freier Journalist geschrieben, wofür ich pro Wort bezahlt wurde. Mittlerweile war auch Annie wieder berufstätig, halbtags, und mein Gehalt konnte sich inzwischen sehen lassen. Wir verdienten also besser als je zuvor. Doch mit zwei Kindern und einem bevorstehenden Hauskauf (der Entschluss stand im Grunde fest,
wir wussten bloß noch nicht, wo wir etwas kaufen wollten) mussten wir vorsichtig bleiben. Wir gönnten uns nur ein wenig mehr Luxus als in
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