1005 - Im Bann des alten Königs
noch?«
»Warum bist du so mißtrauisch, John? Ich verstehe dich nicht. Spricht aus dir die Erfahrung?«
»Auch das. Und der andere Kulturkreis, möglicherweise. Die andere Gesellschaft, wo der eine des nächsten Teufel ist.« Ich winkte ab. »Es ist müßig, darüber noch länger zu sprechen, das wird nichts bringen.«
»Bei dir vielleicht. Bei uns ist es anders. Entweder mag ich einen Menschen, oder ich mag ihn nicht. Alles andere können wir vergessen.«
»Du hast recht.«
»Hier immer«, sagte er leise und schob sich an mir vorbei auf die schmale Tür zu, wo er stehenblieb und nach draußen schaute. Ich wartete noch und schaute auf seinen Rücken. Mikail war ein hochgewachsener Mann. Im Rechteck der Tür mußte er schon gebückt stehen, um die nahe Umgebung des Hauses beobachten zu können.
Schließlich winkte er mir zu, ohne sich dabei umzudrehen.
Kurz nach ihm verließ auch ich das Haus und damit die Kühle der Mauern. Ich wurde eingefangen von einer Glocke aus Staub und Wärme. Der Staub lag wie ein dünner Schleier in der Luft, den die Sonnenstrahlen glitzern ließen. Das Fest war in vollem Gange. Die Besucher und Mitwirkenden sahen wir nicht, aber wir hörten sie.
Der Gesang und die Musik wehten durch die Gassen in unsere Ohren.
Mikail gab mir noch Informationen zur Prozession und zur Geschichte. »Haben sie Ziele?« unterbrach ich ihn. »Auch. Sie gehen zu den heiligen Stätten.«
»Den Kirchen?«
»Ja.«
»Dann ist es auch möglich, daß wir die Lade, die echte, in einer Kirche finden werden.«
Mikail gab mir darauf keine Antwort. Aber er drehte den Kopf und schaute mich an. Ich konnte in seinen Augen lesen, daß ich mit meiner Vermutung nicht so falsch lag. »Stimmt es?«
»Ja und nein«, gab er zu. »Mit der Kirche hast du nicht ganz unrecht. Es wurde ein Sanktorium gebaut.«
»Und was ist mit der Kirche?«
»Die Marienkirche?«
»Oh«, murmelte ich. »Bin ich da einen Schritt weitergekommen?«
»Einen großen sogar«, gab er zu. »Wir werden zu dieser Kirche hingehen. Oder zu der Anlage. Du wirst Dinge zu sehen bekommen, die dir fremd erscheinen mögen, aber laß dich nicht beirren. Bleib an meiner Seite, was immer auch passieren mag.«
»Das hätte ich sowieso getan.«
»Und denke immer an die Feinde, deren Augen überall sind.« Mikail wollte nichts mehr sagen und den Worten endlich Taten folgen lassen. Deshalb machten wir uns auf den Weg. Meine Hoffnung war durch seine letzten Worte wieder ein wenig gedämpft worden, aber das innere Fieber war schon geblieben.
Ich fühlte mich aufgeputscht, erregt. Es war der Name der Marienkirche gefallen. Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Lade.
Daß ich sie in der Kirche sehen würde, daran konnte ich nicht glauben, aber sie war sicherlich nicht weit entfernt.
Schon jetzt malte ich mir aus, wo sie liegen könnte. Irgendwo in der Einsamkeit verborgen. In einer Höhle, in einem Loch. Tief versteckt in einem Stollen. Möglicherweise. Daran mußte ich immer denken, aber ich wollte es im Prinzip nicht. Ich mußte meinen Kopf für die wesentlichen Dinge freihaben.
Der Mann neben mir sagte nichts mehr. Er ging wie ein König.
Aufrecht. Ein Mann, der genau wußte, was er wert war. Er ließ sich so leicht nicht beirren. Irgendwie war er auch zu bewundern. Er ruhte in sich selbst, obwohl er doch jemand war, der möglicherweise mehr wußte als alle Forscher zusammen.
Mikail hatte von der Dämmerung gesprochen. Sie würde kommen, das war sicher, und als ich einen Blick zum Himmel warf, da war zu sehen, daß sich die Sonne allmählich verabschiedete. Sie hatte eine andere Farbe bekommen. Ich hatte sie gerade noch als heißen, grellen Ball erlebt. Das war sie jetzt nicht mehr. Ihre Farbe sah jetzt satter aus.
Die stauberfüllte Luft roch anders. Für mich fremde Gerüche durchwehten sie. Nicht nur der Weihrauch fiel mir auf, auch andere Düfte, die ich noch nie im Leben gerochen hatte. Und wir bewegten uns auch dorthin, wo die Stimmen und die Musik lauter waren und sich die Gerüche verstärkten.
Es war eine andere Welt. Mir kam sie so künstlich vor, als läge sie direkt neben der wirklichen, die wir für eine Weile verlassen hatten.
Es gab kein Pflaster auf dieser Straße. Nur Staub, der, wenn es mal regnete, zu einer wahren Schlammwüste werden würde. Davon war nichts zu sehen. Der Himmel zeigte sich als eine wolkenlose Fläche von einem sehr hellen Blau.
Wir erreichten eine Gegend, in der die Häuser nicht mehr so dicht standen. Breite
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