1005 - Im Bann des alten Königs
halfen.
Es war vorbei, die Prozession würde bald weiterziehen. Ich war sehr beeindruckt gewesen und würde diese Zeit so schnell nicht aus meinem Gedächtnis streichen können.
Da ich noch immer unter dem Eindruck des Erlebten stand, waren meine Schritte schon ziemlich schleppend, als ich mich auf den Weg zu Mikail machte.
Er hatte sich gesetzt. Die Säule gab ihm Halt. Wie ein Bettler wirkte er dort. Auf seinem Kopf trug er auch jetzt noch seinen Tabot. Der Bart umwallte das Gesicht, und die Säule warf sogar einen Schatten, durch den der Staub zog.
Der Himmel hatte sich etwas verändert. Das Blau war geblieben, war aber eingedunkelt. Wolken bekam ich nicht zu Gesicht, dafür noch einmal die Sonne und deren Umgebung.
Sie hatte den Himmel zu einem Ofen werden lassen, dessen große Tür geöffnet war. Die rötliche Farbe würde noch zunehmen und das Firmament bald aussehen lassen, als wäre es in Blut gehüllt.
Vor Mikail blieb ich stehen.
Er hatte mich schon längst gesehen. Jetzt hob er den Kopf. Hinter mir zog die Prozession weiter. Ich hörte wieder den Gesang und vernahm auch die Musik.
Aus einem Impuls heraus fragte ich: »Das war wirklich nicht die echte Lade?«
»Nein, es war eine andere.«
Ich wollte nicht fragen, wie viele dieser Duplikate durch die Straßen der Stadt getragen wurden, dieses Fest war mir einfach zu fremd. Für mich zählte nur die echte Lade.
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Bitte, John.«
Ich wollte nicht immer auf ihn herabschauen und ging deshalb in die Hocke. »Wenn die echte Lade also existiert, und davon gehe ich nach wie vor aus, hat man sie dann in ihrem Versteck ohne Bewachung zurückgelassen?«
Mikail schaute mich an. »Nein«, erwiderte er dann. »Sie ist nie unbewacht.«
»Aber die Priester…«
Er hob die Hand, so daß ich verstummte. »Die Priester sind andere Menschen als die Mönche und Hüter.«
Ich überlegte einen Augenblick. »Du hast nicht nur von Hütern gesprochen, sondern auch von Mönchen…«
»Richtig.«
»Wo gibt es diese Mönche?«
»Sie leben in ihrer Nähe.«
»Müssen wir in ein Kloster?«
Er lächelte über meine Frage. »Der Begriff Kloster ist nicht der richtige Ausdruck dafür.«
»Was dann?«
Ich war nervös, angespannt, und Mikail sah es mir nach. Er lächelte milde. »Es ist eine Wohnstatt. Gib dich damit zufrieden, bitte.«
»Aber ich werde sie kennenlernen?«
Er nickte mir zu. »Es führt kein Weg daran vorbei, denke ich mal.«
Dann nickte er noch einmal. »Ja, du wirst sie kennenlernen, und es war auch gut, daß du Davids Tanz gesehen hast. Das uralte Rollenspiel ist nicht vergessen worden. Man treibt es voran. Es geht weiter, immer weiter.«
»Auch wenn ich die Lade gesehen habe?«
»Auch dann. Ich kann dich verstehen, John«, sagte er und faßte nach meiner Hand. »Ich kann dich wirklich gut verstehen. Du mußt dir immer nur eines vor Augen halten. Was auch geschieht, du wirst die Lade nicht mitnehmen können. Damit mußt du rechnen. Du darfst dir keine falschen Hoffnungen machen. Sie gehört dir nicht, auch wenn du der Träger und Besitzer des Schwertes bist.«
»Ja, ich weiß.«
»Dann ist es gut.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Hilf mir hoch, ich bin ein wenig schwach auf den Beinen.«
Er hatte den Tanz nicht so gut überstanden wie ich. Als er stand, mußte er von mir gestützt werden. Ich gab ihm Zeit, sich zu erholen, dann blickte ich dorthin, wo die Prozession angehalten hatte.
Da war alles leer.
Ein freier Platz, über den noch die letzten, inzwischen sehr dünnen Staubwolken hinwegtrieben, als wollten sie die Erinnerung an die Lade und an das Fest mit sich nehmen.
Ich hatte es erlebt, aber der wirkliche Grund meines Hierseins lag nach wie vor in der Dunkelheit verborgen.
»Es gehört dazu, daß du deine Erfahrungen sammelst, John. Jetzt ist es soweit, daß wir uns auf den Weg machen können.«
»Zu ihr?« fragte ich.
Mikail schaute zum Himmel. Er runzelte dabei die Stirn. »Ja«, murmelte er, »hoffentlich zu ihr…«
***
Terence Bull war gegangen, um Mineralwasser zu holen. Beide, Suko und auch der Constabler, hatten die Luft im Büro als äußerst trocken empfunden. Sie brauchten eine Erfrischung, und da war Wasser immer noch am besten.
Auch Suko war ein Mensch und keine Maschine. Er hatte den Anblick des toten Horace F. Sinclair mit seinen veränderten, dunklen Augen noch nicht überwunden. Immer wieder dachte er darüber nach. Es war für ihn auch schwer, sich vorzustellen, daß der
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