1007 - Totenwache
Wahrheit würde ich nicht entkommen können. Sie war grausam genug.
»Warum reden Sie nicht?«
»Du müßtest es doch wissen – jetzt!«
Ja, ich wußte es. Ich ahnte es zumindest. Es war alles so anders geworden. Ich befand mich plötzlich in einem Loch, das mich immer tiefer hineinriß.
Und dann brach es aus mir hervor. »Du weißt also Bescheid, nicht wahr? Dieser Mann, den ich als meinen Vater gekannt habe, er ist…« Ich hatte Mühe, Luft zu bekommen und schüttelte dann den Kopf. »Er gehört zu euch?«
»Ja, John Sinclair. Er ist einer von uns gewesen. Und er ist noch einer von uns, denn Lalibelas Geist hat endlich einen Gastkörper gefunden. Dein Vater gehört zu unserer Loge!«
Jetzt, als ich es erfahren hatte, da brach für mich eine Welt zusammen…
***
Ich fühlte mich in diesen Augenblicken noch schlimmer als beim Anblick der Leichen. Ich wollte mich verkriechen, mich verstecken, mich auflösen, aber ich kam nicht von der Stelle. Ich stand einfach nur da, starrte ins Leere und wartete darauf, daß etwas passierte.
Nur geschah nichts. Die Welt brach nicht zusammen. Es veränderte sich nichts, ich blieb da, und die Gestalt in der weißen Kapuze blieb es ebenfalls. Nichts veränderte sich außerhalb, nur in meinem Kopf war alles anders geworden.
Plötzlich sah ich meinen Vater in einem ganz anderen Licht. Ich hatte ihn bisher für eine Person gehalten, die in ihrem Leben immer den rechten Weg gegangen war. Aber auf einmal mußte ich erkennen, daß dem nicht so war. Er hatte sich auf eine andere Art und Weise betätigt, und er hatte tatsächlich dieser Loge angehört. Aber nicht nur das, er hatte auch so etwas wie eine Spitzenposition eingenommen, denn sonst hätte sich Lalibelas Geist nicht seinen Körper ausgesucht.
Verrückt war das. Nicht faßbar! Ich stand kurz vor dem Durchdrehen. Aber ich riß mich zusammen. Meine Hände zitterten, die weiße Gestalt verschwamm für einen Moment vor meinem Gesicht. Das Lachen traf mich messerscharf, wer auch immer sich unter der Kapuze verbarg, er amüsierte sich über mich.
Ich blieb ganz ruhig. Meine Augen waren auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Ich schaute zwar in die Spalte hinein, aber das war auch alles. Ansonsten kam ich mir vor wie jemand, den man einfach abgestellt und mit seinen Problemen allein gelassen hatte.
»Er war in der Loge«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf.
»Warum war er in der Loge?«
»Er suchte eine Aufgabe, John. Ja, er ist zu uns gekommen, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Mehr kann ich nicht sagen. Er hat aus denselben Motiven heraus gehandelt wie wir. Wir sind Diener des großen Lalibela, John. Wir stammen von denen ab, die sich damals als Templer nach Äthiopien gewagt haben…«
»Aber nicht mein Vater.«
»Weißt du das genau?«
Ich schluckte. Ich wußte die Antwort nicht. Ich war innerlich völlig von der Rolle. Ich war einfach fertig, und zitterte am ganzen Leib, und ich hatte das Gefühl, als wäre meine Kehle regelrecht zugeschnürt. Meine Augen zuckten, ich saugte die Luft durch den offenen Mund ein, und der Schweiß rann in Strömen über mein Gesicht.
Der Fluch der Sinclairs.
Wieder schoß mir der Begriff durch den Kopf. Es war der Fluch der Sinclairs, und er hatte mich auch hier scharf getroffen. Wie der Stoß mit einer Schwertklinge.
Was sollte ich tun?
»Du wirst ihn abgeben müssen«, hörte ich die Stimme des Mannes wie aus weiter Ferne. »Ja, du wirst ihn abgeben müssen, deinen Vater. Er gehört zu uns, wenn du verstehst. Wir haben in ihm die Wiedergeburt des großen Lalibela erlebt.«
»Und was wollt ihr?«
»Ihn mitnehmen«, flüsterte der Mann unter der Kapuze. »Wir werden ihn mitnehmen.«
»Nein!« Es brach aus mir hervor. Ich hatte meine Stimme nicht halten können. Ich war völlig emotionalisiert. Ich konnte mich nicht mehr dagegen wehren. Ich fühlte mich wie in einem Kreisel steckend und hatte abermals den Eindruck, als würde sich der Boden unter meinen Füßen öffnen und mich verschlingen.
»Wie willst du das verhindern, Sinclair? Dein Vater gehört uns. Er ist der wichtigste Mann.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur über meine Leiche«, sagte ich mit leiser, aber scharfer Stimme. »Nur über meine Leiche. Ansonsten über gar nichts, verstehen Sie?«
»Möchtest du so gern sterben?« fragte er.
»Nein, aber…«
»Du wirst nichts mehr erreichen können. Wir haben uns entschlossen, ihn zu holen, und auf deinen Freund Suko kannst du auch nicht zählen, John. Ihn haben
Weitere Kostenlose Bücher