1007 - Totenwache
eine gewisse Weile ließ er die Tür spaltbreit offen. In der unmittelbaren Nähe des Hauses passierte nichts. Es schien auch niemand gesehen zu haben, wie er die Tür geöffnet hatte. Jedenfalls hörte er keine verdächtige Reaktion.
Suko wagte den ersten Schritt nach draußen. Frischer Wind strömte gegen sein Gesicht und tat ihm gut. Die Gerüche waren unverändert. Es roch nach dem alten Laub, nach alter Erde, nach Baumrinde und irgendwelchen Moosen.
Die Stufen kamen Suko federnd vor, als er sie hinabschritt. In Wirklichkeit aber zitterte er in den Knien. Zudem tobten die Stiche noch immer durch seinen Kopf. Allerdings nicht mehr so intensiv.
Der Boden vor der Treppe war durch die Feuchtigkeit glatt geworden. Geduckt blieb er stehen. Jetzt bewegte er nicht mehr den Kopf, sondern nur seine Augen. Sie glichen denen einer Katze, die herausfinden wollte, wo sich die Beute versteckte.
Es gab weder die Beute noch einen Feind. Nur den Friedhof und die entsprechende Stille.
Der Feuerschein wies ihm die Richtung. Suko war vorsichtig. Von John sah und hörte er nichts. Es lag auf der Hand, daß ihn die Vermummten ebenfalls erwischt und weggeschleppt hatten. Nicht unbedingt getötet, denn darauf waren sie anscheinend nicht aus.
Aber wer, zum Henker, verbarg sich hinter diesen hellen und nach oben hin spitz zulaufenden Kapuzen? Wer wollte unbedingt an die Leiche des Horace F. Sinclair heran?
Natürlich befaßte sich Suko mit seinem Verdacht. Eine Gewißheit hatte er trotzdem nicht bekommen. Es mußte noch weitere Diener Lalibelas geben.
Suko nahm den Weg zur Leichenhalle.
Nicht den direkten. Er hatte sich für den Umweg entschieden und den Hauptweg verlassen. So schlug er sich nicht gerade in die Büsche hinein, sondern schlich über Gräber und deren Steinen oder Kreuzen hinweg. Manche waren auch mit Figuren oder modernen Skulpturen geschmückt. Damit konnte Suko allerdings weniger anfangen.
Ja, sie hielten sich noch an der Leichenhalle auf. Dort nämlich verdichtete sich der Schein des Feuers, aber er war trotzdem schwächer geworden. Suko ging davon aus, daß sich nicht mehr alle Vermummten dort aufhielten.
Für ihn konnte das nur von Vorteil sein. Leider war die Sicht durch zu hoch wachsende Sträucher gestört. Die Umwege, die Suko einschlug, vergrößerten sich, aber er kam seinem Ziel Meter für Meter näher. Hinter einem alten und ziemlich hohen Wasserbottich fand er seine letzte Deckung.
Suko hatte sich geduckt. Er nahm den Geruch des alten Steins wahr. Er hatte Moos angesetzt, zeigte Risse, und an einigen Stellen war das Wasser auch nach außen gesickert.
Darum kümmerte sich Suko nicht. Für ihn war der Fackelschein wichtig. Er tanzte durch die Luft und glitt auch an einem Teil der Außenmauern entlang.
Suko konnte leider nicht erkennen, ob sich auch in der Leichenhalle irgendwelche Menschen aufhielten. Er wurde geblendet, aber die Masse der Vermummten mußte sich zurückgezogen haben. Suko sah nur mehr zwei Aufpasser.
Und diese beiden nahm er ins Visier. Wenn er den nötigen Druck einsetzte, würden sie ihm schon sagen, wo die anderen und vor allen Dingen sein Freund John Sinclair zu finden war…
***
Ich steckte in der Zwickmühle. Auf einmal wirkte die Beretta in meiner Hand lächerlich, denn der Vermummte hatte recht behalten. Es waren zu viele Feinde um mich herum. Ich hätte sie auf keinen Fall alle schaffen können und war auch nicht darauf erpicht, ein Blutbad anzurichten.
Etwas anderes machte mir ebenso zu schaffen, wenn nicht noch mehr. Mein eigener Vater sollte Mitglied in der Loge des Königs Lalibela gewesen sein.
Das war nicht zu fassen. Das mußte ein Irrtum sein. Himmel, ich hatte zu meinem alten Herrn immer ein vertrauensvolles Verhältnis gehabt, nun aber mußte ich mir eingestehen, daß ich zu wenig über meinen Vater gewußt hatte.
Ausgerechnet ihn hatte sich der Geist Lalibelas als Wirtskörper ausgesucht.
Weil das so passiert war, mußte mein Vater innerhalb der Loge einen besonderen Posten gehabt haben.
Ein Führer?
Der Vermummte sprach nicht mehr weiter. Er ließ mich mit meinen Überlegungen allein und schien darauf zu warten, daß ich die Waffe senkte. Das tat ich nicht. Nach wie vor wies die Mündung auf ihn, und ich schaute auch an ihm vorbei, wo sich seine Kumpane wie eine Mauer aufgebaut hatten. Sie hielten ihre Fackeln fest, und die schaurigen Lichter tanzten über ihre Köpfe hinweg.
Ich hatte mich wieder soweit gefangen, daß ich eine Frage stellen konnte.
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