101 - Das Narbengesicht
Aschebergen ehemaliger Scheiterhaufen.
Ich fragte mich, wen der Drachenfürst so fürchtete, daß er diese entsetzlichen Zeichen setzten mußte.
Oder war er mächtig genug, um sich zum Herrscher über Leben und Tod aufschwingen zu können? Dann war er wahnsinnig. Nur ein umnachteter Herrscher würde seine Besucher auf diese Weise quälen, töten und anschließend zur Schau stellen.
Die Zinnen des Schlosses ragten wie die Dächer einer Pagode über den See. Der Weg führte in Serpentinen zum Haupttor. Am Seeufer waren die Mauern fast zwanzig Meter hoch. Auf der anderen Seite ragten bizarre Felsen in den düsteren Himmel. Wer einmal im Schloß gefangen war, würde ohne fremde Hilfe nicht wieder hinauskommen.
Das Signal einer Fanfare kündigte unser Kommen an. Unsere Pferde schnaubten unruhig. Meine schlitzäugigen Banditen machten mißtrauische Gesichter, als sie das große steinerne Drachenwappen über dem Tor erblickten. Die Tür selbst war mit Menschenschädeln geschmückt.
Die Stimme eines Wächters ließ uns anhalten.
„Wer seid ihr?"
„Abgesandte des Kokuo no Tokoyo", antwortete ich. „Macht das Tor auf, damit wir eurem Daimyo die Botschaft des Kokuo übergeben können."
Es dauerte eine Weile, bis sich der Wächter wieder meldete.
.,Ihr müßt vor dem Schloß lagern. Nur euer Anführer darf die Gemächer des Drachenfürsten betreten. "
„Gut", erwiderte ich nach kurzer Überlegung. „Ich bin damit einverstanden. Macht das Tor auf." Sumitodo packte seine naginato - seine Schwertlanze.
„Ich bringe den elenden Knecht zum Schweigen, Herr. Wenn er aufmacht, schicke ich ihn zur Hölle."
„Nein", sagte ich entschieden. „Zuerst überbringe ich dem Drachenfürsten die Botschaft unseres Daimyo. Wenn sich anschließend eine Gelegenheit ergibt hole ich euch ins Schloß"
„Warum willst du dieses Risiko eingehen, Herr?"
„Weil mein Daimyo es wünscht. Haltet euch bereit. Ich muß mich auf euch verlassen können." „Gut", meinte Sumitodo. Sein Galgenvogelgesicht drückte Bedauern aus. Sumitodo und die anderen hätten das Schloß gern geplündert.
Knarrend öffnete sich das Tor. Im Schatten des Hofes erkannte ich zahlreiche Lanzen, die auf uns gerichtet waren. Bogenschützen standen kniend hinter den Zinnen.
„Komm herein, Bote des Kokuo no Tokoyo. Mein Daimyo erwartet dich."
Der Hufschlag meines neuen Pferdes schallte über das Kopfsteinpflaster. Hinter mir schlug das Tor schwer in die Steinfüllung. Die Bewaffneten umringten mich. Sie trugen wertvolle Samurairüstungen und bewegten sich geschmeidig wie Katzen. Ihre Waffen sahen gepflegt aus.
Der persönliche Knecht des Fürsten war bucklig und von zwergenhaftem Wuchs. Er schlurfte vor mir her. Sein länglicher Schädel war mit einer roten Kapuze bedeckt. Hinter den Augenschlitzen funkelten kleine bösartige Augen. Jetzt nahm er meine Zügel und ließ das Pferd anhalten.
„Steig ab und folge mir!"
Wie von unsichtbarer Hand wurde das Tor des Hauptgebäudes geöffnet. Ich warf einen kurzen Blick in die Runde. Das Haupthaus lehnte an der äußeren Seemauer. Zu meiner Rechten lagen die Stallungen und Unterkünfte der Krieger. Aus einem schmalen Gebäude schallte Kampflärm. Dort übten sich die Männer im Zweikampf.
„Worauf wartest du, Schwarzer Samurai?"
Ich strich meinem Pferd über die geblähten Nüstern und folgte dem Buckligen ins Innere des Hauses. Die Mauern waren rußig. In eisernen Haltern steckten kienende Fackeln. Der Palast des Drachenfürsten war bei weitem nicht so luxuriös ausgestattet wie das Kastell meines Daimyo. In verstaubten Vitrinen lagen magische Utensilien, Menschenknochen und kostbare Keramik- und Lackarbeiten.
„Dein Daimyo hält nicht viel von den Vergnügungen des weltlichen Lebens", spottete ich. „Ich sehe keine Pracht, keine Weiber - gar nichts, was das Herz eines Kriegers erfreuen könnte."
„Wir begreifen Ruinen nicht eher, als wir selbst Ruinen sind", sagte der Bucklige zweideutig. „Das einzige, was auf dieser Welt Bestand hat, ist der Tod."
Er verbeugte sich und riß den Vorhang beiseite. Dahinter öffnete sich ein großer Saal, in dessen Ecken schwerbewaffnete Samurais standen. In der Mitte flackerte ein helles Feuer, dessen Rauch durch eine Deckenöffnung verschwand. Um die Feuerstelle lagen kostbare Seidenteppiche, Felle und weiche Kissen. Auf ihnen ruhte der Drachenfürst und sein Gespiele, ein grüngeschupptes Schlangenmonstrum.
„Ah", rief der Drachenfürst, „der Abgesandte des Kokuo no
Weitere Kostenlose Bücher