101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
folgenden Nacht kam der König, brach das Siegel auf und schlief mit dem Mädchen bis zu der bewussten Zeit.
Da rief ihre Schwester Danisad ihr zu: ~ Ach, meine Schwester! Ach, Schahrasad, erzähle doch unserem Herrn, dem König, deine schönen Geschichten!
~ Einverstanden, erwiderte sie. ~ Und so, mein Gebieter, geht die Geschichte weiter:
Nachdem Scheich Siâd Ibn Imlâk einige Tage auf hoher See gesegelt war, ging ihnen das Trinkwasser aus. Sie hielten auf eine Insel zu, um ihre Wasservorräte aufzufüllen. Während sie gerade dabei waren, hörten sie plötzlich ein gewaltiges Rauschen. Sie hoben ihre Köpfe in die Richtung, aus der es kam, und erblickten einen Vogel, der sich auf sie stürzte, einen von ihnen mit seinen Krallen packte und mit ihm hoch in die Lüfte flog. Die Männer begannen aufgeregt zu schreien. «Du wolltest uns umbringen!», hielten sie dem Scheich vor.
Doch der entgegnete: «W er sterben muss, der stirbt zu Gottes festgesetzter Frist. Und wer am Leben bleibt, der lebt, weil Gott es ihm gewährt.»
Den ganzen Tag über blieben sie dort, und als die Nacht hereinbrach, hörten sie wieder einen gewaltigen Lärm. Diesmal kam das Geräusch vom Meer her. Zu Tode erschrocken hoben sie ihre Köpfe, und was sahen sie da? Mondgleiche Mädchen, die hatten die Haare gelöst und ließen sie bis auf die Hüften fallen.
Als die Seefahrer die Mädchen erblickten , bewegten sie sich auf sie zu. Die Mädchen aber machten keinerlei Anstalten zu fliehen. Sie waren sogar freundlich zu ihnen und freuten sich über ihre Gesellschaft. Und so verbrachte jeder von ihnen die Nacht mit einem der Mädchen. Doch sowie der Morgen dämmerte und das Tageslicht heller wurde, riefen die Mädchen einander etwas zu und tauchten in die Wogen des Meeres hinab, und keinem von ihnen gelang es, auch nur eines der Mädchen festzuhalten.
Da nun der Wind günstig stand, bestiegen sie wieder ihr Schiff und segelten quer übers Meer bis zur Kampferinsel. Die Insel war weiß wie ein Silberbarren. Sie hielten darauf zu, und als sie nahe herangekommen waren , warfen sie die Anker aus, luden die Geräte ab und begaben sich auf die Insel. Nachdem sie rund um den Stein die Erde weggeschaufelt hatten, befestigten sie ein Seil an ihm und zogen alle miteinander daran. Tatsächlich gelang es ihnen, den Stein von seinem Platz zu rücken. Unter dem Stein fanden sie eine Platte aus Marmor. Auch die zogen sie fort. Darunter erblickten sie den Schlund einer Höhle. Mit Kerzen in den Händen traten sie ein und gingen weiter, bis sie an ein Eisentor gelangten, zu dessen rechter Seite eine Löwenfigur saß.
«W er von euch geht vor?», fragte der Scheich.
Sie warfen das Los, und es fiel auf einen von ihnen. Kaum war dieser in die Nähe des Löwen gekommen, als der Löwe auf ihn lossprang, ihn zerriss und auf seinen Platz neben der Tür zurückkehrte. Sie hörten nur noch den Schrei des Mannes und seinen Aufprall in einem ungeheuer großen Gang nachhallen.
Da sprachen sie wieder zu dem Scheich : «Nichts anderes hast du im Sinn als unser Verderben!»
Der Scheich aber wandte nun einen Kniff an und schaltete so den Mechanismus des Löwen aus. Dann legte er eine Platte vor die Öffnung des Ganges. Vorsichtig traten sie darauf und gingen weiter bis zu einer anderen Platte aus schwarzem Marmor, in deren Zentrum sich ein Drehknauf befand. Sie drehten an dem Knauf, da hob sich die Platte. Unter ihr wurde eine Treppe sichtbar. Sie stiegen die Stufen hinunter. Aus einer kleinen Tür leuchtete ihnen Licht entgegen. Ja, es war, als fiele das Licht durch die Tür zu ihnen herein. Sie gingen darauf zu und befanden sich plötzlich auf einem großen, weiten Platz, in dessen Mitte eine Wasserquelle sprudelte. Rund um die Quelle gab es Früchte und Bäume, auf denen verschiedenartige Vögel saßen. All das war aus Gold und Silber gefertigt. Der Quelle gegenüber tat sich ein Schlosstor auf, das keine Beschreibung je erfassen könnte. Vor dem Tor saß ein Talisman in Menschengestalt mit einem gezückten Schwert in der Hand. Er bewegte die Hand auf und nieder und drehte sich dabei wie ein Mühlstein um seine eigene Achse. Alle standen starr vor Staunen über diesen Anblick. Und wieder wandten sie sich an Siâd Ibn Imlâk. «W ie ist denn hier nun der Kniff?», fragten sie, damit sie nicht zu Tode kämen.
«Gemach, gemach», beschwichtigte sie der Scheich. «Ich muss erst selbst den Mechanismus verstehen.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad ,
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