101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
dachte er, ließ das Pferd an seinem Platz stehen und stieg in den Palast hinunter. Er ging immer weiter, bis er zu einem großen Zelt gelangte, das mit getupftem Brokat ausgekleidet und mit rötlichem Gold verziert war. Staunend blieb er stehen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Während er gerade so dastand, hörte er auf einmal die Atemzüge eines Schlafenden. Er ging darauf zu und fand einen schlafenden Menschen. Neben ihm lag ein Schwert, vor ihm aber stand ein goldener Teller mit Essen darauf. Auf einem goldenen Ständer steckte eine Kerze.
Er berichtet weiter:
Der Königssohn trat hinein, aß sich satt und trank, bis sein Durst gestillt war. «Bei Gott», sprach er zu sich selbst, «Ich werde diesen Palast nicht eher verlassen, als bis ich gesehen habe, was darin ist.» Er trat an jenen Schlafenden heran und nahm dessen Schwert an sich. Jetzt sah er Licht aus einem anderen Gemach hervorschimmern, ging darauf zu, betrat das Gemach und fand dort Kerzen aufgesteckt. In der Mitte des Gemachs stand ein Bett aus Elfenbein auf vier Bettpfosten aus Gold. Es war über und über mit Perlen und unterschiedlichen Edelsteinen in vielerlei Farben verziert. Auf dem Bett lag jemand und schlief. «Ohne Zweifel ist das der Herr dieses Palasts», sprach der Königssohn zu sich selbst, trat auf ihn zu, und was sah er da? Es war ein Mädchen gleich dem strahlenden Vollmond oder dem zunehmenden Mond, wenn er sich rundet. Sie trug ein aus rötlichem Gold gewebtes Gewand. Als der junge Mann sie sah, verlor er den Verstand. Sein Herz verging, und seine Seele begann zu schweben. Er stieg zu ihr aufs Bett, setzte sich an ihrem Kopfende nieder und betrachtete ihre Schönheit und Anmut. Da konnte er nicht länger an sich halten und küsste sie auf die Stirn.
Sieerwachte,sahihnanundrichtetesichauf. «W erbistdu,undvonwobistduhereingekommen?»,sprachsieihnan.«DieToresinddochalleverschlossen!»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.
Die siebenundachtzigste Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
~ Mein Gebieter!, fuhr sie in ihrer Erzählung fort.
~ Das Mädchen fragte weiter: «Bist du ein Mensch oder ein Dschinn?»
«Sprich leise, meine Herrin», flüsterte er, «damit keiner von den Dienern erwacht!»
«Erzähle mir deine Geschichte und sag mir, was es mit dir auf sich hat!», verlangte sie. «Bist du es, der mich als Braut von meinem Vater erbat, und hat etwa mein Vater dich hier hereingelassen?»
«Ja, so ist es», erwiderte er.
Darüber freute sich das Mädchen, und weil sie sah, wie schön und anmutig er war, wurde sie sehr glücklich.
Er berichtet weiter:
Während sie sich gerade so miteinander unterhielten, drang ihr Gespräch den Dienerinnen an die Ohren. Sie richteten sich auf und bemerkten erstaunt die Schönheit des jungen Mannes.
«Habt ihr jemals einen schöneren als diesen jungen Mann gesehen, den mein Vater mir als Ehemann ausgewählt hat?», wandte sich die Königstochter an die Mädchen.
«Und wie ist er hereingekommen?», fragten die Dienerinnen zurück.
«Ich weiß es nicht, bei Gott», beteuerte sie, «ich weiß nur, dass ich aufgewacht bin und ihn an meinem Kopfende sitzen sah. Ich habe ihn gefragt, was es mit ihm auf sich habe, und er hat zu mir gesagt: ‹Ich bin dein zukünftiger Gatte.›»
«Bei Gott, meine Herrin», wandte da eines der Mädchen ein, «das ist nicht der, der gestern um deine Hand anhielt. Jener Freier wäre es nicht einmal wert, der Diener dieses jungen Mannes hier zu sein. Ich kann dir sagen und versichern», fuhr die Dienerin fort, «dass jener auf die schändlichste Art und Weise von deinem Vater schied. Nein, du hast einen wie diesen hier verdient. Du passt zu ihm und er zu dir.»
Es wird erzählt:
So redeten sie gerade miteinander, als plötzlich der Page erwachte, nach seinem Schwert tastete und, da er es nicht wiederfand, zu den Dienerinnen ging. Die Mädchen erzählten ihm, was vorgefallen war. Er näherte sich den beiden und fand sie auf dem Bett sitzend. «Bist du ein Dschinn?», sagte er zu dem Königssohn. «Dann ist sie dir verwehrt. Doch wenn du ein Mensch bist, so gebührt das Mädchen keinem anderen als dir.»
«Aber nicht doch, ich bin ein Mensch wie du», entgegnete der, und der Page entfernte sich, um den Vorfall dem König zu melden.
«W ehe dir!», schnaubte der König außer sich. «V on wo ist er hereingekommen?»
«Ich weiß es nicht», gab der Page zu.
Als der König das hörte,
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