101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
stand er augenblicklich auf und lief eiligen Schrittes zu den Dienerinnen. «W ehe euch!», herrschte er sie an. «W er ist das?»
«W ir wissen es nicht», entgegneten sie. «W ir wissen nur, dass wir ihn an ihrem Kopfende sitzend aufgefunden haben, wobei er ein gezücktes Schwert in der Hand hielt.»
Nun trat der König an das Bett heran, hob den Vorhang und fand den jungen Mann bei seiner Tochter sitzend. Er glich, so befand er, dem Mond in der Nacht, in der er am vollkommensten ist. Der König zog sein Schwert und schickte sich an, ihn zu erschlagen.
Da erst bemerkte ihn der junge Mann. «W er ist das?», fragte er das Mädchen.
«Mein Vater», sagte sie.
Daraufhin erhob sich der Königssohn und stieß einen fürchterlichen Schrei in Richtung des Königs aus.
Der König schrak zurück und wandte sich dann mit milden Worten ihm zu: «Bist du ein Dschinn oder ein Mensch?»
«Bei Gott», polterte der junge Mann, «wäre mir die Würde deiner Tochter nicht heilig, so würde ich dich mit einem einzigen Streich ins Reich der Ahnen befördern. Wie kannst du es wagen, mich mit Dschinnen und Teufeln in Verbindung zu bringen, wo ich doch der Sohn eines mächtigen Königs bin? Zöge mein Vater gegen dich ins Feld, so würde er dich erniedrigen und dein ganzes Land verwüsten.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.
Die achtundachtzigste Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
~ Und so, mein Gebieter, sagte sie, ~ geht die Geschichte weiter:
Als der König seine Rede vernommen hatte, bekam er Angst um sein Leben. «W enn es wirklich so ist, wie du vorgibst», sagte er zu ihm, «wie konntest du dann unerlaubt in meinen Palast und meinen Harem eindringen? Ich werde auf der Stelle meinen Dienern befehlen, dich zu töten.»
Der Königssohn brach in Gelächter aus, als er ihn das sagen hörte.
«W arum lachst du?», fragte ihn der König.
«Ich lache über deine Dummheit», entgegnete der Königssohn. «W irst du denn jemals einen besseren Ehemann für deine Tochter finden als mich? Etwa einen mit mehr Geld oder mehr Männern, über die er gebietet?»
«Ich würde es doch bevorzugen», gab der König zu bedenken, «wenn du deinen Antrag in Anwesenheit rechtmäßiger Zeugen stellen könntest, damit mir durch dich keine Schande erwächst.»
«Gut», sagte der. «Doch ich möchte dir noch einen anderen Vorschlag machen. Lass mich bis zum morgigen Tag allein. Sobald Gott den Morgen dämmern lässt, ziehe mit deiner ganzen Armee und deinen Soldaten aus und befiehl ihnen, auf dem Kampfplatz gegen mich anzutreten. Wenn sie mich besiegen, dann soll es so sein. Bezwinge ich sie aber, dann sage mir: Wer außer mir soll dann deine Tochter gewinnen?»
Der König hörte sich seine Rede an und fand Gefallen daran. Er legte sein Schwert aus der Hand, der Königssohn tat es ihm gleich. Dann setzten sich die beiden, um sich zu unterhalten. Anschließend schickte der König seinen Diener zum Wesir und ließ ihm den Befehl erteilen, dass die Armee sich rüsten möge.
Sowie der Morgen anbrach, saßen alle auf den Rücken der Streitpferde. Auch der König saß auf, führte dem Königssohn ein edles Ross vor und bot es ihm an. Doch der weigerte sich, aufzusitzen.
«W arum steigst du nicht auf?», wollte der König wissen.
«W eil mein Pferd auf dem Schlossdach steht», antwortete er.
Der König nahm seine Worte nicht ernst. «Das Pferd ist aufs Dach geklettert?», fragte er.
«Schick deine Diener mit mir», forderte ihn der Königssohn auf.
Er gab ihm eine Schar seiner Diener zur Begleitung mit, und sie stiegen mit ihm aufs Dach des Palasts. Dort fanden sie das Pferd. Sie hoben es an und trugen es hinunter zum König. Als der es sah, war er verblüfft. «Dieser Mensch», sprach er zu sich selbst, «ist ein Verrückter.»
Dann ließ der König den Herold die folgende Nachricht ausrufen: «An alle Anwesenden! Ein Jüngling hat sich bei mir eingestellt, wie ich noch keinen klügeren, gebildeteren und beredteren jemals gesehen habe. Er hat begehrt, mein Schwiegersohn werden zu dürfen, und ich habe ihm als Brautpreis die Aufgabe gestellt, dass er gegen euch kämpfen muss. Also nehmt ihn euch vor!»
Der Königssohn aber stieg auf sein Pferd, drehte die Abflugschraube herum, und schon reckten sich die Hälse nach ihm. Er steuerte das Pferd in der Luft; zwischen Himmel und Erde ließ er es fliegen.
«Holt ihn herunter, bevor er euch entwischt!», rief der König, als er das
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