101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)
sah.
«Gott mehre die Macht des Königs», entgegneten sie, «wie sollen wir einen fliegenden Dschinn aus der Luft holen? Er ist ein Magier und Betrüger, Gott möge uns vor ihm beschützen. Also preise Gott, den Erhabenen, und danke Ihm!»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.
Die neunundachtzigste Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
~ Und so, mein Gebieter, sagte sie, ~ geht die Geschichte weiter:
Enttäuscht und unverrichteter Dinge kehrten die Truppen heim. Auch der König begab sich zurück in seinen Palast. Dort fand er seine Tochter niedergeschlagen. Sie klagte und trauerte um den Königssohn, verließ ihr Bett nicht mehr und verweigerte Essen und Trinken. Die Königstochter schwor einen heiligen Eid, sie werde weder Speis noch Trank anrühren, ehe sie nicht wieder mit dem Königssohn vereint wäre. Als ihr Vater sie in diesem Zustand sah, küsste er sie zwischen die Augen und sprach zu ihr: «Gott sei Dank, dass wir jetzt Ruhe haben vor diesem Magier.» Doch so gut er ihr auch zuredete, ihr Kummer wurde nur noch größer.
Wie aber erging es unterdessen dem Königssohn? Während er immer höher in den Himmel stieg, verharrten seine Gedanken bei der Schönheit und Anmut des Mädchens. Weiter und weiter flog er durch die Lüfte, immer in Richtung seiner Vaterstadt. Er landete auf dem Palast, stieg von seinem Pferd, ließ es stehen und begab sich zu seinem Vater, den er in Trauer um seinen Sohn antraf. Als sein Vater ihn erblickte, sprang er auf und schloss ihn in die Arme. Gleich darauf ging der Königssohn zu seinen Schwestern und seiner Mutter. Auch sie freuten sich sehr, ihn zu sehen. Dann fragte er sie nach dem Weisen. «Er sitzt im Gefängnis», antworteten sie ihm. Er erteilte den Befehl, den Weisen freizulassen, bekleidete ihn mit einem Ehrengewand und beschenkte ihn reichlich, doch mit seiner Schwester vermählte er ihn nicht. Darüber wurde jener äußerst zornig.
Dann berichtete ihnen der junge Mann, was er im Palast des fremden Königs gesehen hatte, und sagte ihnen auch, dass er im Sinn habe, dorthin zurückzukehren. Sie aber versuchten es ihm auszureden. «Bei Gott, ich muss es tun», bekräftigte er, «es führt für mich kein Weg daran vorbei.»
Drei Tage blieb er nun bei seinem Vater. Am vierten Tag nahm er sich Wegzehrung, so viel er brauchte, stieg auf das Pferd und flog davon. Als sein Vater das sah, bereute er, dass er es versäumt hatte, den Mechanismus des Pferdes außer Kraft zu setzen.
Das Pferd flog und flog und landete schließlich auf dem Dach des Palasts des Mädchens. Dort setzte sich der Königssohn hin und wartete die Nacht ab. Sobald er sich sicher war, dass alle Bewohner des Palasts fest schliefen, glitt er vom Dach herab und schlich behutsam zu der bewussten Nische. Er fand die Türen offen, und eine Kerze flackerte in dem Gemach. Er trat auf das Mädchen zu und küsste sie, bis sie aus ihrem Schlaf erwachte. Als sie ihn sah, sprang sie schnell auf und küsste ihn wieder.
«Ich liebe dich über alle Maßen», flüsterte er ihr zu. «Aber du hast ja gesehen, was dein Vater mit mir tun wollte. Ich habe jetzt meine Familie verlassen und bin zu dir zurückgekehrt. Wenn du willst, so komm mit mir, denn jetzt ist eine günstige Gelegenheit dafür. Willst du nicht, so lasse ich dich hier und kehre allein zurück zu meiner Familie.»
«Ich kann ohne dich nicht mehr leben», antwortete sie.
Und so stand der Königssohn auf, führte sie aufs Dach, stieg auf sein Pferd, setzte sie hinter sich in den Sattel und zog sie ganz fest an sich. Dann betätigte er die Abflugschraube, und das Pferd hob ab und trug die beiden empor in die Lüfte.
Es wird erzählt:
Nun wurden ihre Dienerinnen wach und fanden keine Spur mehr von ihr. Sie erhoben ein Geschrei, und jetzt erwachte auch der König aus seinem Schlummer. «W as ist euch zugestoßen?», erkundigte er sich besorgt, und sie berichteten ihm von dem Mädchen. Der König schlug sich ins Gesicht und zerriss seine Kleider.
Unterdessen hatte sich der Königssohn schon von der Stadt entfernt. «W illst du, dass ich dich in deinen Palast zurückbringe?», fragte er.
«Nein», entgegnete sie und beteuerte: «Bei Gott, ich werde dich nie mehr verlassen, und ich will keinen anderen als dich.»
An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen.
Die neunzigste Nacht
So spricht Faharâyis, der Philosoph:
~ Und so, mein Gebieter, sagte
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