Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)

101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition)

Titel: 101 Nacht: Aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
Vom Netzwerk:
wird erzählt:
    Als Gott den nächsten Morgen grauen ließ, kam der Wesir wie gewöhnlich heran. Die Diener fingen ihn ab und handelten an ihm, wie es ihnen der Kalif befohlen hatte. «W enn ich nur wüsste, was ich verbrochen habe!», sprach der Wesir zu sich selbst. Damit verließ er das Land und zog umher, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Ganz allein wanderte er in der Gegend herum, ziellos wie ein Verliebter oder ein durstiges Tier. Es war Winter. Er wanderte weiter und weiter, bis er des Abends hungrig und frierend in eine Stadt kam. Vor lauter Angst und Müdigkeit sah er bereits dem Tod ins Auge.
    Er suchte eine Herberge für Kaufleute auf. Dort waren die Handelswaren und Güter der wohlhabenden Händler gelagert. Noch immer war er durcheinander und wusste nicht, was tun. «Hast du ein Zimmer, in dem ich heute übernachten kann?», fragte er den Gastwirt.
    «Bei mir übernachten keine Landstreicher und Habenichtse», gab der Wirt zurück. «Hier lagern nämlich die Waren und Güter der Kaufleute, da bin ich sonst meines eigenen Lebens nicht sicher.»
    Er berichtet weiter:
    Ratlos blieb der Wesir zurück. Er wusste nicht, was er tun sollte.
    Da erhob sich einer der Kaufleute. «Herr Gastwirt!», sagte er. «Gib ihm ein Zimmer für heute Nacht. Ich bürge für ihn.»
    DerGastwirtführteihnineingeradeerstroherbautesundgeebnetesZimmer.DerWesirtrateinundbemerkte,dassesdortgarkeineMatratzegab.Erwolltesichhinsetzen,dochdaswarwegenderKälteunmöglich.ErversuchteseinenRückengegendieWandzulehnen,aberauchdasertrugernicht,sokaltwardieWand.UndwährenddieNachtihredunklenLockensenkteunddieMenschenihreToreverschlossenhatten,einigevonihneninihrenHäusernsaßen,anderenochsangenundGedichterezitierten,dachtederunglücklicheWesirbeisich: «W irsindGottesGeschöpfe,undzuIhmkehrenwirzurück.Wieschlechtwarichheutezumirselbst!HätteichnichtbesserunterdemDacheinesBackhausesUnterschlupfsuchenunddortdieNachtverbringensollen?»UnderversankinGedankenanseineLage:wiewohlesihmzuvorergangenwarundwieeinSchicksalsschlag mit einem Mal alles verändert hatte. Dazu stimmte er die Verse an:
    [ Wâfir ]
    «W ird hier ein Tod verkauft? Ich will ihn haben!
    Das Leben taugt nicht für mich Unglücksraben.
    Seh’ ich ein Grab, so siehst du mich gleich wünschen:
    Ich wär’ der Tote, der darin begraben.
    Hab Mitleid, denn ich bin wie alle Liebeskranken,
    Die selbst den Tod als Spende ihrem Bruder gaben.»
    Es wird erzählt:
    KaumdasserseinLiedbeendethatte,klopfteesanseinerTür.Nochimmerverwirrt,sprangeraufundöffnete.Undwerstanddavor?DerMann,derdieBürgschaftfürihnübernommenhatte.Ertratherein,einebronzeneLampeinderHand,dieeranderWandaufhing.AuchbrachteereineFeuerschalevollheißerGlutmitsowieeinehübscheDecke,dazuallerleiGewänderundeinenEsstischmitEssenundWasserdarauf.ErzogihmdenMantelaus,legteihmdieGewänderanundgabihmzuessenundzutrinken,biserwiederzuKräftenkamunddieAnstrengungundErschöpfung,dieinihmsteckten,verflogenwaren.DabeiredeteihmderKaufmannfreundlichzuundunterhieltsichmitihm. «W asistdeineGeschichte,meinBruder,undwashastduerlebt?»,fragteerihnganzvertraulich.«Denn aus deinem Lied ist zu erkennen, dass du ein gebrochenes Herz hast.»
    «Mein Bruder», erwiderte der Wesir, «ich sage jetzt dasselbe, wie es Jakob – Friede sei mit ihm – nach dem Koran gesagt hat: ‹Ich klage Gott mein Leid und meine Traurigkeit!›»
    Es wird erzählt:
    Und weiter redete der Kaufmann freundlich auf ihn ein, er aber wagte ihm doch nicht die Wahrheit zu sagen, aus Angst vor dem Kalifen.
    Schließlich ergriff den anderen das Mitleid, und er sagte zu ihm: «Ich habe vier Töchter und besitze Kapital in Höhe von tausend Dinar. Davon soll die Hälfte mir und die andere Hälfte dir gehören. Ich habe nämlich vor Gott gelobt, das Geld für nichts anderes als zu Seinem Wohlgefallen auszugeben, und ich kenne keinen Menschen, der würdiger wäre als du, es zu besitzen. Also nimm es, und Gott segne dich.»
    «Das kann ich nicht annehmen», widersprach der Wesir.
    «Dann vielleicht halb so viel?», versuchte es der Kaufmann, doch auch das weigerte sich der Wesir anzunehmen.
    Unaufhörlich drang der Kaufmann weiter in ihn, bis er schließlich einen Dinar von ihm annahm.
    Es wird erzählt:
    Als Gott den Morgen dämmern ließ, wandte sich der Wesir an den Kaufmann: «Möge Gott Seinen Segen auf dich legen und dir vergelten, was du an mir getan hast.» Und der Kaufmann verabschiedete sich von dem Wesir, wünschte ihm Gottes Segen und ging auf sein Zimmer.

Weitere Kostenlose Bücher