1011 - Laurins Totenwelt
denke ich schon darüber nach.«
»Eben.«
»Aber es geht noch weiter, Signore Sinclair. Die anderen sind immer gegangen.«
»Verschwunden, meinen Sie?«
»Ja, ohne ihre Hände. Sie tauchten ohne ihre Hände einfach unter.«
»Hat man sie nie wieder gesehen?«
»Nein. Wenn ja, dann hätte ich es gewußt. Keine ist mehr gekommen. Sie gingen alle.«
»Ohne Hände?«
»Ja und nein. Manchen Frauen wurde nur eine Hand abgeschlagen, aber bei Jessica war es anders.«
»Warum?«
»Ihr Mann wollte es so.«
»Hatte er einen besonderen Grund?«
»Ja«, erklärte Cesare Caprio nickend. »Er hat seine Frau gehaßt. Er hat ihr die Untreue nicht verziehen. Er wollte, daß ihr beide Hände abgehackt wurden.«
»Aber jetzt lebt auch er nicht mehr.«
Caprio ging darauf nicht ein. »Dafür werde ich der nächste sein, das weiß ich.«
»Langsam, noch leben Sie. Zwar haben Sie sich schuldig gemacht, aber ab sofort sind Sie nicht mehr allein.«
»Was heißt das?«
»Ganz einfach, Signore Caprio. Ich werde von nun an an Ihrer Seite bleiben.«
»Ein Leibwächter?«
»Wenn Sie es so sehen, okay.«
»Und ich bin der Lockvogel.« Meine Lippen zeigten ein Lächeln.
»Nur zur Hälfte. Auf der anderen Seite sind Sie mein Führer, denn ich möchte, daß Sie mich zu diesem Ort hin begleiten.«
»Zu dem Mund?«
»Wohin sonst?«
Er wollte noch etwas sagen, aber er schaffte es nicht mehr und fing an zu zittern. In seinem Glas befand sich nichts mehr. Ich schenkte noch einmal nach, aber nur halbvoll.
Cesare Caprio schlürfte das Zeug weg und schüttelte sich. Dann nickte er. »Ja, ich will es zwar nicht, aber Sie haben wohl recht. Manchmal muß man den sauren Apfel auch aufessen, in den man gebissen hat. Das ist nun mal so.«
»Schön, daß Sie so denken.«
»Und wann sollen wir gehen?« Ich lächelte ihn an. »Sofort, Signore Caprio – sofort…«
***
Die Conollys schwiegen und hielten für einen Moment den Atem an. In der Stille war das Keuchen des Pfarrers doppelt so laut zu hören. Immer wieder fuhr er durch sein Gesicht.
»Der Zwergenkönig Laurin also«, stellte Bill fest. »Was hat er damit zu tun? Welche Rolle spielt er genau?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es so recht. Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber es ist uralt. Es ist eine Legende, und der Mund der Wahrheit zusammen mit dem Gesicht ist Laurin.«
»Ein Denkmal.«
»Kann sein.«
»Wer hat es geschaffen?«
Der alte Mann hob die Schultern. »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gibt das Gesicht schon lange. So lange ich denken kann. Und die Vorfahren kannten es auch. Man muß sich an Überlieferungen halten, dann ist es wohl in Ordnung.«
»Wie lauten die?«
»Ich kann nur wiederholen, was man sich erzählt. Laurin selbst soll sein Gesicht irgendwann zusammen mit dem offenen Mund in den Felsen eingehauen haben. So erzählt man sich die Geschichte, und so wird sie sicherlich auch stimmen.«
Sheila brannte eine Frage auf der Zunge. »Waren Sie schon mal dort oben am Felsengesicht?«
»Einmal.«
»Wann?«
»Es ist schon sehr lange her.«
»Und Sie haben nichts unternommen?«
Beinahe schon verzweifelt schaute er Sheila an. »Was hätte ich denn unternehmen können oder sollen?«
»Ich kann es auch nicht sagen, aber Sie sind Geistlicher. Sie hätten mit den Insignien der Kirche…«
»Nein, nein«, erwiderte er jammernd. »Ich weiß ja, was Sie denken, aber die Dinge liegen anders, ganz anders. Niemand kommt gegen diese Macht an. Sie ist seit langer Zeit schon gefestigt. Wir Menschen hier aus Pochavio müssen gehorchen, und wenn wir es nicht tun, dann sind wir verloren.«
»Das ist aber noch nicht ausprobiert worden – oder?«
»Niemand hat sich getraut. Deshalb wird es weitergehen. Ich habe mich hier in meine Kirche zurückgezogen, um zu beten, um die Gnade des Allmächtigen zu erflehen. Inzwischen bin ich so alt geworden, aber ich werde wohl auch weiterhin mit dem alten Fluch leben müssen, bis an den Rest meiner Tage.«
»Da denken wir anders«, sagte Bill. »Wir sind nicht gekommen, um hier in den Bergen Urlaub zu machen.«
»Urlaub?« Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, wer hier Urlaub machen sollte. Ich kenne keinen, denn dieser Ort ist dafür nicht geeignet. Er stößt die Menschen ab. Das Tal ist ihnen zu düster, und sie haben damit auch recht. Uns allen scheint es, als stünden die Berge mit Laurin im Bunde, denn ihre düsteren Schatten sind wie die Vorboten des Todes.«
»Meinen Sie das
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