1011 - Laurins Totenwelt
nicht einmal sehr genau hinschauen.
Das Blut hatte bereits eine rostige Farbe angenommen. Wenn ich daran dachte, woher es stammte und wie alles gekommen war, konnte ich schon Beklemmungen bekommen.
Als mein Blick Cesare Caprio traf, hob dieser nur die Schultern und behielt jeden Kommentar für sich. Die Umgebung war für mich uninteressant geworden, mich interessierte einzig und allein das Gesicht im Fels. Obwohl ich die Antwort schon bekommen hatte, fragte ich mich doch, wer es geschaffen hatte und wen es darstellen sollte.
Tatsächlich Laurin?
Ich konnte es nicht behaupten. Ich hatte vor Jahren schon eine Begegnung mit dem Zwergenkönig gehabt, aber die Erinnerung an ihn war doch verblaßt.
Einen Schritt vor dem Gesicht blieb ich stehen. Cesare Caprio hielt sich nicht in meiner Nähe auf, dennoch hörte ich seinen scharfen Atem. Er stand unter Hochdruck. Er wollte mir sogar etwas Gutes tun, als er mich warnte. »Gehen Sie nicht zu nahe heran, denn das kann sogar gefährlich werden.«
»Wieso? Kennen Sie sich aus?«
»Ich weiß nicht…«
»Bleiben Sie da, wo Sie sind.«
Ich wollte mich nicht stören lassen, trat noch etwas näher und streckte meinen Arm aus. Bisher hatte ich das Felsengesicht noch nicht berührt, das allerdings änderte sich jetzt, und so strich ich mit der rechten Handfläche über das Gestein hinweg.
Es war normaler Fels. Nicht wie eine Filmkulisse täuschend echt nachmodelliert, sondern hartes Gestein, mit dem ich zunächst einmal nicht zurechtkam.
Aber ich tastete jede Stelle innerhalb des Kreises ab, um eventuell auf eine Spur zu stoßen. Dabei fuhr meine Hand auch über die Augenhöhlen hinweg, glitt über den Mund, und meine Anspannung löste sich, denn auch er wies nur das harte Gestein auf.
Die Lippen waren keineswegs weich oder biegsam.
In diesen Mund also hatten die beiden Männer die Hände hineingesteckt. Es war der Mund der Wahrheit. Aber welcher Wahrheit?
Auf diese Frage erhielt ich keine Antwort.
Die Düsternis dahinter blieb bestehen. Mit bloßem Auge konnte ich nichts erkennen. Trotzdem ging ich davon aus, daß dieses Gesicht den Eingang zu einer Höhle darstellte. Meiner Ansicht nach mußte er die gleiche Funktion haben wie ein Briefkastenschlitz, nur daß dieses Maul keine Briefe schluckte, sondern menschliche Hände.
Ich ging in die Hocke, schaute durch das Maul in die Höhle hinein und schaltete die kleine Lampe ein. Der dünne Strahl fand seinen Weg in die Tiefe.
Ja, er verlor sich. Es wurde spannend. Hinter diesem Gesicht schien sich eine tiefe Höhle auszubreiten, die möglicherweise den gesamten Berg durchzog. Ein Versteck für König Laurin und seine Zwerge?
Möglich war alles. An Überraschungen hatte ich mich mittlerweile gewöhnen können.
»Haben Sie was gesehen, Signore Sinclair?«
»Nein.«
»Aber da ist doch etwas dahinter oder?«
»Ja, eine Höhle. Völlig dunkel und völlig leer, wie ich das beurteilen kann.«
Mit der nächsten Frage quälte er sich herum, aber er stellte sie trotzdem. »Und die Hände? Was ist mit denen passiert?«
»Die sehe ich nicht.«
»Aha.«
»Aber sie sind da?«
»Ja, bestimmt. Seit langer Zeit hat das Maul die Hände der untreuen Frauen geschluckt.«
»Nun ja, wir werden sehen, ob ich hier etwas erreichen kann.«
Ich schaltete die Lampe wieder aus und stellte mich gerade hin.
Auch Cesare Caprio traute sich an mich heran und blieb neben mir stehen. »Begreifen kann ich das noch immer nicht.« Er wirkte erleichtert. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ihm hier nichts passiert war. Er hatte es sich wohl anders vorgestellt. »Dann können wir uns ja wieder auf den Rückweg machen, denke ich.«
Ich schaute ihn mit einem Blick an, der ihn verstummen ließ.
»Nicht?« fragte er.
»Und was wollen Sie noch hier? Eine Hacke besorgen und versuchen, das Gesicht zu zerstören?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, erwiderte ich, »aber sie ist mir zu mühsam.«
»Heißt das, Sie bleiben?«
Ich nickte und nestelte bereits an der Kette, an der mein Kreuz hing. Caprio schaute mir zu. Seine Augen waren groß geworden, aber er bewegte sie nervös. Die Hände ballten sich zu Fäusten, öffneten sich wieder, und dann stöhnte er leise auf, als er das Kreuz sah. Zufällig wurde es von einem Sonnenstrahl berührt und leuchtete deshalb stärker als gewöhnlich.
Der Mann neben mir zuckte zurück. Er riß sogar seinen Arm in die Höhe, als wollte er sich schützen.
»Nicht so theatralisch, Caprio. Dieses Kreuz hier ist etwas
Weitere Kostenlose Bücher