1011 - Laurins Totenwelt
vom Turm der kleinen romanischen Kirche überragt, der sich gegen den klaren Hintergrund ziemlich deutlich abhob, als hätte man ihn gemalt.
Ich ging weiter, als sich auch Cesare Caprio mit schweren Schritten in Bewegung setzte. Er hatte seinen Oberkörper nach vorn gebeugt, als hätte er eine schwere Last geschultert. Seine Augen befanden sich in ständiger Bewegung. Ich wußte, daß er sich fürchtete. Ich kannte auch den Grund seiner Furcht, aber er sprach selbst nicht darüber. Die Killerhände erwähnte er überhaupt nicht.
Man nennt diese Strecken Höhenwege oder Höhen-Wanderwege. Zumindest dann, wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hatten, liefen sie normal und flach weiter.
So verhielt es sich auch bei diesem Weg. Wir konnten bald besser ausschreiten, denn es gab keinen Anstieg mehr.
Ich blieb jetzt an Caprios Seite. Seine dunkle Kleidung war total verschwitzt. Das weiße Hemd unter dem Jackett war zerknittert und unansehnlich.
Er ging rechts neben mir. Ich spürte seine Hand wie eine Klammer am Ellbogen, als er zufaßte. »Hören Sie, Signore Sinclair, wir sind bald da.«
»Sehr gut.«
Dieser Antwort hatte ihm nicht gefallen. Ich konnte ihm ansehen, daß er etwas auf dem Herzen hatte. »Wissen Sie, Signore, es ist auf der rechten Seite und…« Er blieb stehen, so daß auch ich gezwungen war, mich ihm anzuschließen.
»Ja, und?«
»Nun ja, ich habe mir gedacht, daß Sie mich nicht mehr brauchen, Signore Sinclair.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil Sie es nicht übersehen können. Ich brauche Sie nicht mehr zu führen.«
»Stimmt.«
Auf einmal leuchtete die Hoffnung in seinen Augen. »Dann kann ich jetzt gehen?«
»Nein!«
Er knurrte eine Antwort, die ich nicht verstand, aber sie hatte sich enttäuscht angehört. Dann sah er meinen Zeigefinger auf sich gerichtet. »Ich will Ihnen etwas sagen, Signore Caprio. Auch wenn wir diesen Weg hier gemeinsam gegangen sind, können Sie mich nicht als Freund betrachten. Ich stehe auch nicht auf Ihrer Seite, denn ich habe für das, was Sie getan haben, kein Verständnis. Ich lasse auch nicht zu, daß Sie kneifen. Sie müssen sich schon den Problemen stellen, die Sie sich selbst eingebrockt haben.«
Er senkte den Kopf. »Si, das weiß ich.«
»Dann gehen wir jetzt weiter.«
Ich sah, wie er innerlich kämpfte, wie sein Gesicht und sein Mund anfingen zu zucken. Würde er mir folgen?
Vor uns lag eine Linkskurve. An deren Ende verloren sich die Schatten, es wurde heller. Möglicherweise war der Weg dort unterbrochen, aber das würde ich bald sehen.
Es stimmte. Der schmale Weg mündete in einem kleinen Plateau.
Gewissermaßen eine Aussichtsplattform, von der aus man einen wunderbaren Blick ins Tal hatte. Dort strömte der Bach in all seiner Wildheit durch das Bett, aber ihm gönnte ich nur einen flüchtigen Blick, denn die andere Richtung war wichtiger.
Eine Felswand baute sich vor uns auf. Im unteren Bereich nur pures Gestein, aber weiter höher war sie bewachsen. Da krallten sich Büsche, Sträucher und niedrige Bäume in die Ritzen des Gesteins fest und hingen über.
»Da, da ist es…«
Ich antwortete mit einem Nicken, denn mir war das Gesicht im Fels bereits aufgefallen.
Ja, ein Gesicht!
Ich war darauf vorbereitet gewesen. Trotzdem mußte ich schlucken, als ich es sah. Auch bei einem flüchtigen Hinsehen fiel es auf.
Es war einfach zu prägnant. Ein Kreis im Gestein. Mit einem ziemlich großen Durchmesser, fast so rund wie die Scheibe des Vollmonds.
Zwei Löcher als Augen. Unterschiedlich groß. Das von mir aus gesehen linke war kleiner. Nur ein schwarzes Loch. Das rechte größer und eingerissen oder eingesplittert. Darunter die Nase. Ein Klumpen aus Stein, nicht mehr. Sie war auch nicht unbedingt wichtig, mich interessierte einzig und allein der Mund.
Ja, er hatte genau die richtige Breite, um auch einen Körper schlucken zu können. Der Mund stand offen. Er war eine Höhle.
Schwarz wie Teer. Der Mund bot einen unheimlichen Anblick, der einem schon eine Gänsehaut über den Rücken laufen lassen konnte, die auch mein Begleiter bekommen hatte. Der Anblick dieses Mauls mußte bei ihm die schlimmsten Erinnerungen wieder hochgedrückt haben.
Er war wohl nicht in der Lage zu reden. Ich wollte trotzdem von ihm eine Antwort haben. »Ist es hier geschehen? Haben Sie der Frau hier die Hände abgehackt?«
Er nickte.
»Wo genau?«
»Hier auf dem Boden hat sie gelegen. Sie können die Blutflecken noch erkennen.«
Das stimmte. Ich brauchte
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