1011 - Laurins Totenwelt
jetzt wieder unter die Weste drücken?
»Zerstört. Sie lebt nicht mehr. Ich habe keinen Kontakt mehr. Sie ist nicht mehr da. Ich habe in dem Augenblick, als sie vernichtet wurde, die Phantomschmerzen gespürt. Ich habe dir nichts davon gesagt, aber ich weiß mit Bestimmtheit, daß sie nicht mehr ist. Da kannst du denken, was du willst.«
»Wer wollte sie denn vernichtet haben?« erkundigte ich mich, obwohl sich schon eine Ahnung bei mir aufbaute. Beide Hände hatten sich in Pochavio befunden. Dort mußte es dann zu einer Auseinandersetzung gekommen sein. Wahrscheinlich war sie auf Bill und Sheila getroffen und war von ihnen vernichtet worden. Daß es Cesare Caprio geschafft hatte, daran konnte ich nicht glauben.
Jessica war wirklich fertig. Sie betrachtete ihre Armstümpfe und wirkte dabei so, als würde sie diese zum erstenmal überhaupt richtig wahrnehmen.
»Nur eine Hand?« fragte ich.
»Bis jetzt schon«, flüsterte sie. »Die andere muß noch existieren.«
»Dann hol sie wenigstens her.«
»Nein, nein, das geht nicht. Ich spüre, daß sie sich ebenfalls in Gefahr befindet. Es gibt die Hand noch, aber ich weiß nicht, wie lange sie existieren wird. Ich kann sie nicht herholen, es ist unmöglich, das weiß ich genau.«
»Du mußt es tun!«
»Nie!«
»Denk daran, was mit Laurins totem Zwerg passiert ist. Ich an deiner Stelle würde…«
Plötzlich schrie sie mich an. Sie riß dabei so weit wie möglich ihren Mund auf. Andere Kräfte schüttelten ihren Körper durch, und aus ihrem Schreien wurde ein Fauchen. Zuerst hatte ich gedacht, von ihr angegriffen zu werden, das aber stimmte nicht. Sie war dazu gar nicht in der Lage, denn sie litt unter irgendwelchen Qualen, die ihr geschickt wurden.
Aus dem Fauchen wurde ein Lachen. Dann riß sie die Arme hoch. Ihr Kopf bewegte sich hektisch. Sie starrte mit weit geöffneten Augen gegen die Decke.
»Tot!« brüllte sie, und mir lief bei diesem Wort ein Schauer über den Rücken. »Sie hat es geschafft. Sie hat getötet. Es gibt ihn nicht mehr, es gibt ihn nicht mehr…«
Ich hatte jedes Wort verstanden, aber ich fragte mich, von wem sie gesprochen hatte.
War es Cesare Caprio gewesen oder Bill Conolly…?
***
Sheila stand am Rand der Luke, als wäre sie dort festgenagelt worden. Sie wußte auch, daß sie das schaurige und schreckliche Bild niemals in ihrem Leben vergessen würde.
Es schien zu einem Stilleben des Grauens geworden zu sein, denn Caprio bewegte sich nicht. Er stand noch auf der Stelle, vorgebeugt, und beide Hände hielt er gegen eine Stufe gestützt.
Aber in seinem Kopf steckte das Beil! Blut quoll hervor. Entsetzlich viel Blut.
Warum fällt er nicht? dachte Sheila. Verdammt, warum fällt er nicht? Warum hat er diese demütige Haltung eingenommen? Er muß doch kippen, er ist tot. Er kann nicht stehen bleiben. Und so etwas überlebt niemand. Das ist nicht wahr, denn ich komme damit nicht zurecht. Fall doch hin! Fall endlich hin…
Sie hatte den Eindruck daß es eine fremde Stimme war, die da in ihrem Körper schrie, die auch wieder leise wurde und allmählich verging.
Sheila dachte wieder klarer und realistischer. Jetzt erkannte sie auch den Grund, weshalb Caprio noch nicht gekippt war. Es lag an der Hand, denn sie hielt das Beil noch fest und sorgte dafür, daß Cesare Caprio in dieser Haltung blieb.
Sheila hatte sich bisher tapfer gehalten. Sie war dabei sogar bis an die Grenzen ihrer Kraft herangegangen, aber was sie jetzt sah, das machte ihr schon zu schaffen. Es war so gut wie unmöglich, alles genau in die Reihe zu bekommen. Zuerst Bills Bewußtlosigkeit, nun ihre eigene Angst, die so drückte, als wollte sie ihr den Magen zerreißen. Es kam einfach zuviel zusammen.
Und sie merkte ihre eigene Schwäche. Das taube Gefühl in den Beinen. Ihr Gewicht war zu schwer für die Füße geworden. In den Knien fing das Zittern an. Auch der Kreislauf war nicht mehr so top, wie sie es sich vorgestellt hätte, denn die nach unten führende Stiege verschwamm allmählich vor ihren Augen. Jede Stufe schien sich aufzulösen, auch die Hand mit dem Beil.
Sheila Schwäche nahm zu. Sie stellte fest, daß sie kippte. Ausgerechnet noch nach vorn. Wenn sich ihr Körper so weiter bewegte, würde sie das Übergewicht bekommen und die Treppe nach unten stürzen. Es brauchte nur ein gewisser Punkt erreicht zu sein, dann war es um sie geschehen.
Soweit kam es nicht.
Als wäre plötzlich ein Schutzengel erschienen, der seine Hand auf Sheilas Schulter gelegt
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