1019 - Das Vampirfenster
langen Armen drückte sich der Frau entgegen. Das Entsetzen über seine Anwesenheit hatte sie stumm gemacht. Zum erstenmal sah sie ihn so nahe, und sie starrte direkt in sein schreckliches Gesicht. Es war glatt, es war kalt und auch böse.
Keine harten Züge, eher weich, wobei die schon lappige Haut auffiel. Auch konzentrierte sie sich auf seinen Mund. Das waren keine normalen Lippen mehr. Gilian empfand sie eher als Lefzen, denn die Unterlippe hing herab und die obere war in die Höhe geschoben.
Er atmete nicht. Trotzdem wehte ihr so etwas wie ein Atem entgegen, aber mehr ein fauliger Moder- oder Leichengeruch, der tief aus seinem Innern drang.
Er faßte zu.
Diesmal umklammerten seine Hände nicht den Hals der Frau. Sie erwischten die Schultern und drückten Gilian zurück auf die Matratze. Da wußte sie, daß ihre letzte Chance vertan war. Sie konnte ihm nicht mehr entwischen. Sie würde sich nicht aus dem Bett rollen können, um dann zu fliehen. Seine Kraft war einfach zu stark. Jemand wie er machte mit einem Opfer, was er wollte.
Er kroch auf sie zu. Er glitt über sie. Sie spürte den Druck auf ihrem Leib. Sein Mund stand offen. Wie ein Lappen hing die Unterlippe in Richtung Kinn.
In den Augen des Blutsaugers lag kein Funken Gefühl. Sie waren einfach nur düster, mit winzigen, roten Fäden durchzogen. Sehr schmale Blutäderchen.
Er leckte seine Lippen. Die Zunge kam Gilian dabei wie ein dunkler Lappen vor. Noch immer kam sie nicht darüber hinweg, daß sie es gewesen war, die diese Gestalt durch das Blut eines John Sinclair erst zu einem unheilvollen Leben erweckt hatte. An ihrem eigenen Tod würde sie die Schuld tragen. Dann war sie so etwas wie eine Selbstmörderin.
Er streichelte sie.
Eine kalte Hand fuhr über ihr Gesicht. Trocken, eisig, dennoch kam sie ihr fettig vor. Er lächelte sie an, und die beiden Zähne zielten bereits in Richtung Hals.
Noch lag sie für ihn zu ungünstig, was sich schnell änderte. Die streichelnde Hand verwandelte sich in eine Klaue, die blitzartig in Gilian blondes Haar griff, sich darin festdrehte und den Kopf so zur Seite zog, daß die linke Hälfte freilag.
Adern zeichneten sich unter den Haut ab. Gilian sah sie nicht, aber sie wußte es. Und sie war auch erfahren genug, um herauszufinden, was der Vampir vorhatte.
»Nein… nicht … ich …«
Er lachte nur.
Keine Chance.
Trotzdem wollte sie sich hochdrücken. Noch einen letzten Versuch der Befreiung unternehmen, der nicht klappen konnte, denn durch ihr Aufbäumen kam sie dem Biß entgegen.
Zwei Zahnspitzen bohrten sich in ihren Hals. Zuerst empfand sie nur eine kurze, sehr knappe Berührung, dann erfolgte der Druck, verbunden mit dem Gewicht.
Tief drangen die beiden Zähne ein. Sie rissen eine Ader auf. Sie ließen das Blut sprudeln, und Gilian Kyle spürte wie ihr Lebenssaft sie verließ.
Er quoll in den aufgerissenen Mund der Gestalt hinein. Der Vampir hatte seine lappigen Lippen auf den Hals der Frau gedrückt. Er leerte sie wirklich nach der klassischen Methode, und er würde einfach nicht von ihr ablassen, bis er auch den letzten Tropfen getrunken hatte. Da war er einfach nicht zu halten.
Gilian lebte noch immer. Aber sie konnte der Schwäche nicht mehr entgehen, die sie lähmte. Die Kraft floß aus ihrem Körper, sie glitt einfach weg. Das normale Leben konnte nicht mehr festgehalten werden.
Gilian spürte die Schwäche. Sie fiel, obwohl sie liegenblieb. Ihre Augen hielt sie weit offen, dennoch konnte sie kaum etwas erkennen. Die Welt um sie herum war verschwommen, und auch das Gehör ließ langsam nach.
Das Schmatzen und laute Saugen sackte immer mehr zusammen.
Eine schon unheimliche und nicht erklärbare Stille überfiel sie. Zugleich mit einer anderen Kraft versehen, und diese Kraft zerrte sie tief hinein in den finsteren Abgrund.
Der Vampir hatte sein Ziel erreicht. Zweimal Menschenblut. Zum einen war er durch den Lebenssaft geweckt worden, zum anderen hatte er ihn getrunken und war satt.
Aber das war nicht das Ende für ihn. Es gab jemand, der ihn haßte, und er haßte den anderen ebenfalls, obwohl er schon dessen Blut geschmeckt hatte.
Es war ihm gut bekommen. Und es würde ihm abermals gut bekommen. Mit diesem Gedanken zog er sich zurück und verschwand dabei auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war…
***
Ich hatte das Hotel betreten und blieb für einen Moment ein wenig irritiert stehen. Bisher hatte ich es nur als ruhiges Haus gekannt. Das war nicht mehr der Fall. In der Halle
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