1019 - Das Vampirfenster
Regeln. Sie war zwar kein Expertin, aber Gilian wußte, daß es Plätze gab, die von Vampiren gehaßt wurden. Dazu zählten unter anderem auch Kirchen. Geweihte Stätten, in denen sie nichts verloren hatten.
Hier nicht. Hier war alles anders. Sie konnte es nicht fassen, obwohl sie darauf vorbereitet hätte sein müssen. Es war nicht ihre erste Begegnung mit dieser Schattengestalt, aber es war ihre intensivste geworden. Nie zuvor hatte sie ihn so deutlich gesehen und auch gespürt. Von ihm strahlte eine böse und gefährliche Aura ab, die auf Gilian überging und sie frösteln ließ.
Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits war sie fasziniert, andererseits fürchtete sie sich vor der Gestalt, obgleich sie wußte, daß sie von diesem Blutsauger nichts zu befürchten hatte.
Das war ihr versprochen worden, aber konnte sie einem derartigen Wesen trauen?
Der Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Sie schluckte ihn und nahm den bitteren Geschmack wahr. Der Vampir brauchte Blut. Er lebte davon, und Blut spielte auch eine große Rolle. Wegen des Blutes war sie hergekommen, es war sehr wichtig für sie, aber es war nicht ihr Blut, das er haben wollte.
Lange Zeit hatte sie gezögert. Sie hätte es schon längst erledigen können, aber Gilian hatte es immer wieder vor sich hergeschoben.
Jetzt stand sie am Scheideweg. Jetzt mußte sie sich entscheiden, was sie unternehmen und wie es weitergehen sollte.
So dicht wie in dieser Nacht hatte sie ihn noch nie erlebt. Das Kirchenfenster bestand aus farbigen Mosaiken, deren Einzelteile von Gilian schon teilweise gereinigt worden waren. Dennoch war das Fenster nicht unbedingt hell geworden. Die dunkleren Farben überwogen. Noch dunkler war die Gestalt. Das tiefe Schwarz der Kleidung. Dazu der Kontrast des bleichen Gesichts mit dem leicht geöffneten Mund, aus dessen Oberkiefer zwei Zähne hervorstachen.
Überdeutlich trat er hervor. Er hatte sich erholt. Er wußte, daß diese Nacht entscheidend war, und Gilian wußte es auch. Es war ebenfalls ihr Scheideweg. Gleichzeitig wußte sie auch, daß sie nicht anders konnte.
Obwohl sie den Blutsauger erst seit kurzer Zeit betrachtete, kam es ihr vor, als würde sie schon stundenlang hier auf dem Gerüst stehen. Ihr war kalt. Eine andere Kälte als normal. Sie kam von innen und fühlte sie etwas dicht und fettig an, obwohl sie über diesen Vergleich lächeln mußte. In etwa stimmte er.
Das Haar war ihr ins Gesicht geweht worden. Automatisch wischte sie die Strähnen zur Seite. Als hätte es nur dieser Bewegung bedurft, nahm der Vampir plötzlich Kontakt mit ihr auf. Er tat es auf eine Art und Weise, die Gilian nicht überraschte, denn seine Stimme hörte sie plötzlich in ihrem Kopf.
Es waren nicht einmal Gedanken, die diese Entfernung überbrückten. Wenn ja, dann hatte sie sich in Worte verwandelt, und Gilian lauschte dieser einen Frage.
»Hast du alles vorbereitet?«
»Ja…«
»Ist das Blut da?«
»Ich habe mein Versprechen gehalten.«
»Sehr gut.«
Da der andere keine Frage mehr stellte, dachte Gilian daran, was sie mit dem Blut eines John Sinclair getan hatte. Alles war gekonnt inszeniert worden. Der Vampir hatte ihr den Plan eingeimpft. Gilian war so von seinem Erscheinen fasziniert gewesen, daß sie sich nicht dagegen gewehrt hatte.
Die Begegnung mit einem gewissen John Sinclair war nicht zufällig gewesen. Ihr war auch nicht aus Zufall die Flasche aus der Hand gerutscht, und ebensowenig hatte sie den fremden Mann mit der Scherbe angeritzt.
Es gehörte alles zu einem Plan, der nun in die entscheidende, zweite Phase hineinging. Ob die dritte Phase dann auch noch klappte, das wußte sie nicht. Das lag einzig und allein an John Sinclair.
Die Weichen hatte sie durch das Schreiben des Briefes gestellt. Zudem schätzte sie Sinclair als einen Menschen ein, der einen derartigen Hilferuf nicht ignorierte. Darauf hatte auch der Vampir gesetzt, dessen Namen Gilian nicht einmal wußte.
»Das Blut!« erinnerte sie wieder die Stimme in ihrem Kopf. »Du weißt, wie wichtig es ist.«
Nach dem Zusammentreffen mit John Sinclair war sie schnell nach Hause gefahren. Sie hatte das Taschentuch vorsichtig ausgewaschen und das etwas verdünnte Blut in ein kleines Gefäß tropfen lassen, das sie anschließend mit einem Korken versehen hatte.
Alles war okay. Die zweite Phase konnte beginnen, und sie merkte, wie nervös sie war. So etwas, das bald folgen würde, hatte sie noch nie getan. Sie wollte auch jetzt kaum glauben,
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