1019 - Das Vampirfenster
Vampir griff nicht an, um ihr Blut zu saugen.
Die Frau nickte der Gestalt im Fenster noch einmal zu. Sprechen konnte und wollte sie auch nicht. So schnell wie eben möglich mußte sie diesen Platz verlassen und zu ihrem Auto laufen.
Durch ihren Beruf war sie mit Gerüsten bestens vertraut. Hier aber befürchtete sie, auf einer der feucht gewordenen Sprossen abzurutschen und griff deshalb härter als gewöhnlich zu. Trotzdem stolperte sie. Zum Glück erst an der zweitletzten Sprosse, so daß sie den Rest gefahrlos springen konnte.
Auf dem Boden fühlte sich Gilian sicherer. Sie blickte nicht mehr zu dem Kirchenfenster hin, sondern drehte sich um. Mit langen Schritten hastete sie auf den Punto zu, den der Schatten des Bauwagens deckte. Abgeschlossen hatte sie das Auto nicht. Sie zerrte die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz. Dort blieb sie hocken, zitternd und schwer nach Atem ringend. Mit beiden Händen fuhr sie durch ihr Gesicht, um die Schweißschicht wegzuwischen.
Es ging ihr nicht gut. Es ging ihr auch nicht schlecht. Sie war nur schrecklich überdreht. Dabei gierte sie nach einer Zigarette. Im Handschuhfach fand sie eine angebrochene Packung. Drei Stäbchen steckten noch darin. Ohne Filter, sehr stark.
Beim Herausziehen hätte sie beinahe eine Zigarette zerkrümelt.
Krumm steckte sie dann zwischen ihren Lippen. Durch das Zittern der Hand tanzte auch die Flamme des Feuerzeugs. Das weiße Papier der Zigarette erhielt an der Seite einen grauen Aschestreifen.
Gilian saugte den Rauch ein. Er war scharf und stark. Sie hüstelte.
Dann drehte sie das Fenster auf, um frische Luft in den Wagen zu lassen.
Trotz des Bauwagenschattens parkte das Auto recht günstig. Gilian konnte die Kirche sehen und dort vor allen Dingen das Fenster.
Da sie genau wußte, wo es sich befand, richtete sie ihren Blick nur dorthin. Sie wollte sehen, ob sich etwas tat. Der Vampir war erwacht. Es gab für ihn keinen Grund mehr, noch länger in der Scheibe gefangen zu stecken.
Sie sah nichts.
Gilian rauchte noch drei Züge und schleuderte die Kippe dann aus dem Fenster. Eigentlich hatte sie hier nichts mehr zu suchen. Dennoch konnte sie sich nicht überwinden, abzufahren. Sie hätte jetzt auch nicht schlafen können, denn in ihrem Innern herrschte ein gewaltiger Aufruhr.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Der innere Drang war einfach zu stark. Gilian drückte die Tür auf und verließ den Wagen. Sie wollte sich überzeugen, auch wenn es vielleicht verkehrt war.
Die kleine Flasche war leer, der Vampir hatte das Blut angenommen, es hätte sich also etwas tun müssen.
Mit diesem Gedanken eilte die Frau wieder zurück zu den Gerüsten. Es konnte alles falsch sein, was sie tat, aber sie brauchte es. Es war auch nicht nötig, wieder auf das Gerüst zu klettern, selbst vom Boden aus würde sie das Fenster sehen können.
Heftig atmend blieb sie stehen. Sie kannte eine Lücke, wo das Gerüst ihr nicht den Blick nahm. Es war wichtig, das Fenster zu sehen.
Die Gestalt würde sich dort abmalen. Sie wußte es, sie…
Nein!
Gilian Kyle erschrak. Sie stöhnte auf. Schwindel überkam sie. Sie hatte das Gefühl, als wären die Beine dabei, sich vom Untergrund zu lösen.
Schwebe ich? Stehe ich?
Eine Antwort wußte sie nicht, aber sie raffte sich auf, um noch einmal nachzuschauen.
Das Bild blieb.
Sie sah das Fenster. Sie sah auch die Ränder am Bleiglas, aber sie sah nicht mehr denjenigen, auf den es ihr ankam.
Der Vampir war verschwunden!
Gilian hörte sich selbst laut atmen. Der Druck im Magen hatte wieder zugenommen. Der Speichel schmeckte abermals bitter, und ein leichter Schwindel hielt sie erfaßt. Die Frau kam mit der neuen Lage nicht zurecht. Dabei hatte sie vom Auto aus das Fenster nicht aus den Augen gelassen. Sie hätte den Vampir beim Verlassen der Scheibe sehen müssen. Das aber war ihr entgangen.
Angst überkam sie immer stärker. Beide Hände drückte sie gegen den Leib und beugte sich zugleich nach vorn. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen und fragte sich, ob sie alles falsch gemacht hatte.
Wie sie zurück in ihren Wagen gekommen war, wußte Gilian selbst nicht zu sagen. Jedenfalls saß sie hinter dem Lenkrad, starrte ins Leere und startete noch nicht.
Sie war starr geworden und wünschte sich, alles nur geträumt zu haben.
Leider hatte sie keinen Traum erlebt. Es war alles wirklich geschehen, und es brannte in ihrer Erinnerung. Die Bilder ließen sich nicht löschen, sie schwebten durch ihren Kopf und
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