1019 - Das Vampirfenster
stand ihr im Weg. Sie drückte sie wieder zusammen und nahm den gleichen Beobachtungsplatz wie zuvor ein. Jetzt war der Vampir in der Scheibe noch wichtiger geworden.
Gilian Kyle erinnerte sich daran, daß sie auch das Gesicht mit dem verdünnten Blut bestrichen hatte. Dabei hatte sie den Mund nicht ausgelassen. Die Tropfen hatten die Lippen berührt. Sie konnte sich auch vorstellen, daß der Vampir etwas von dieser Flüssigkeit geschluckt hatte, denn er wollte leben. Auf seine Art und Weise leben.
Sein Gefängnis verlassen, um an das Blut der Menschen heranzukommen, das dann seine Existenz sicherte.
Gilian wußte Bescheid. Sie hatte sich kundig gemacht und viel in der letzten Zeit über das Thema gelesen.
Ihren Platz auf dem Gerüst verließ sie nicht, obwohl sie eigentlich hätte gehen können. Sie wollte schauen, herausfinden, ob sie alles korrekt durchgeführt hatte.
Noch bewegte sich der andere nicht. Er blieb ein dunkler Schatten und gefangen in der Scheibe des Kirchenfensters. Warum? Warum tat er nichts? Habe ich etwas falsch gemacht? fragte sie sich. Er meldet sich auch nicht bei mir. Er ist so anders geworden, so still. Sie verstand die Welt nicht mehr und merkte dabei, wie sich ihre Furcht immer mehr verdichtete.
In ihrem Hals lag ein Kratzen, als hätten sich dort einige Scherben versammelt. Das Herz pumpte schwer. Sie hörte auch den Wind nicht mehr. Jetzt nahm sie einzig und allein die Stille hier gefangen.
Sie kam ihr vor wie ein Gefängnis.
Am meisten fürchtete sie sich davor, daß die Scheibe brechen würde, wenn der Blutsauger sie verließ. Dann war es ihr kaum möglich, den Scherben auszuweichen, die auf sie zufliegen würden. Deshalb zitterte sie so stark, dachte natürlich immer mehr an Flucht, doch sie traute sich einfach nicht.
Das Blut hatte sie bis zum letzten Tropfen verteilt. Eigentlich hätte der Vampir erweckt sein müssen, wenn es nach den alten ungeschriebenen Gesetzen ging.
Aber er bewegte sich nicht. Wie ein starres Gemälde war er innerhalb der Scheibe zu sehen, und auch in seine Augen trat kein Leben.
Sie blieben unbeweglich, der Mund zuckte ebenfalls nicht, auch nicht die Haut in seinem Gesicht oder am Hals.
Still stand er in der Scheibe…
Wieviel Zeit vergangen war, konnte Gilian nicht sagen. Der Eindruck, gefangen zu sein, verstärkte sich immer mehr, und die Angst verdichtete sich weiter.
Vampire brauchen Opfer.
Sie stand hier als Opfer. An sein Versprechen konnte sie nicht mehr so recht glauben, denn ihm ging es ja um eine andere Person.
Er wollte John Sinclair.
Da zuckte sein Gesicht!
Gilian, die es nicht aus den Augen gelassen hatte, erschreckte trotzdem. Es war das erste Anzeichen darauf, daß der Vampir aus seinem Trauma erwacht war.
Gilian ballte ihre Hände zu Fäusten. Die Fingernägel drückten in die Handballen, was sie allerdings ignorierte. Ihr Sinnen und Trachten galt ausschließlich dem Blutsauger.
Er bewegte den Kopf.
Ein kurzes Schütteln nur. Wie jemand, der irgendwelche Tropfen loswerden will. Dann senkte er den Kopf nach unten, um Gilian genauer sehen zu können. Sein Blick war dabei bösartig, düster, und Gilian befürchtete das Schlimmste.
Es trat nicht ein.
Der Vampir verzog sein Gesicht in die Breite, denn er grinste die Frau von oben herab an. Ein böses Lachen war es. Es enthielt all die Grausamkeit, zu der er fähig war. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte Gilian dieses Lachen oder Lächeln erlebt. Sie konnte sich davor einfach nur fürchten, und sie begann stärker zu zittern.
»Du hast getan, was ich wollte«, flüsterte der Blutsauger, wobei Gilian nicht wußte, ob er jetzt normal mit ihr redete oder sie seine Stimme nur im Kopf hörte. Sie hatte einfach den Überblick verloren.
»Ich spüre das Blut. Ich merke, wie es in mir kocht. Ich bin frei, hörst du?«
Sie nickte.
»Ich habe das Blut eines Feindes in mir. Es ist wunderbar. Es wird mir Kraft geben. Durch sein Blut werde ich den Feind selbst zu einem Verfluchten machen. Ich weiß, daß du alles getan hast. Jetzt kannst du gehen, ich brauche dich hier nicht mehr, aber du weißt auch, daß ich immer in deiner Nähe bin. Ich werde dich beobachten und sehen können, obwohl du mich nicht entdecken wirst. Denk immer daran, Gilian.« Er drückte den Kopf wieder zurück. »So, und jetzt kannst du verschwinden. Geh, leg dich hin. Die Dunkelheit gehört mir.«
Gilian Kyle fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bestätigt. Der
Weitere Kostenlose Bücher