102 - Borro, der Zombie
einem Meer von Erinnerungen und konnte sich nicht von den Eindrücken
lösen.
Diese herrliche Nacht. Diese herrliche, verfluchte
Nacht!
Der Mann am Tisch in dem dunklen Zimmer der vornehmen
Villa barg seinen Kopf in beide Hände. Seine Finger zitterten. Er preßte die
Finger fest an die Ohren, als könne er dadurch verhindern, daß die
schrecklichen Töne in sein Hirn drangen. Aber sie kamen von innen und
entwickelten sich in seinem Bewußtsein.
Das Tam-Tam der Trommeln – erst eine, dann fünf, dann
zehn. Die Luft um ihn herum erzitterte, die Bilder folgten in schnellem
Wechsel. Tam-tam… tam-tam-tam… tam-tam… tam-tam-tam… Der Boden erbebte, sein
Körper schwang mit in diesen Vibrationen, das Blut raste durch seinen Körper.
Dunkelheit – Strand. Er allein – und dann…
»Ich bin Moia«, sagte eine leise Stimme.
»Ich bin George.« Er drückte dem Halbnackten das
Päckchen in die Hand, das er vorbereitet hatte. Das Geschenk für Moia. Der
Eingeborene verschwand in den Büschen und versteckte es.
»Komm«, raunte er dann.
George folgte ihm über dunkle, verschlungene Pfade – vor
sich geheimnisvolle Stimmen und das monotone Tam-tam in den Ohren.
»Niemand wissen darf«, sagte der Eingeborene.
»Ich weiß.« George ging geduckt. Seine Sinne waren
gespannt, und Erregung hatte ihn gepackt. Er würde der erste sein, der es
erfuhr, der erste, der an Ort und Stelle dabei war.
Moia riskierte sein Leben. Kein Außenstehender durfte
das sehen, was sich George Horman vorgenommen hatte, mitzuerleben. Haiti
steckte voller Rätsel. Man erzählte sich viel über den geheimnisvollen
Voodookult. Aber niemand wußte etwas Genaues.
Er hatte es geschafft, sich bei wiederholten Besuchen
auf der Insel das Vertrauen eines der Eingeborenen zu sichern. Kleine Geschenke
schafften Freundschaft und erhielten sie.
Diese Nacht, die vor ihm lag, würde er sicher nicht
vergessen.
Endlich erreichten sie die Stelle. Es war ein
geheimnisvoller Fleck mitten im Dschungel, ein freier Platz. Dunkle Leiber
hockten im Kreis. Moia gab dem Weißen zu verstehen, sich nicht zu rühren, kein
Geräusch zu verursachen und im Gebüsch zu bleiben.
In der Mitte der Lichtung war eine Grube ausgehoben.
Kleine Feuer brannten rings herum. George hielt den Atem an und reckte den
Kopf. Er glaubte, unten auf dem Boden der Gruft jemand liegen zu sehen, einen
Menschen. Einen Toten? Alles vor seinen Augen verschwamm. Wohlriechende Dämpfe
wehten zu ihm herüber. Im wilden Rhythmus der Trommeln sah George viele
Gestalten tanzen. Aus der Gestik und einzelnen Wortfetzen, die er verstand,
konnte er entnehmen, daß hier ein Häuptlingssohn gestorben war. Diese
verschworene Gemeinschaft wollte mit geheimen Kräften und Riten den Toten
wieder ins Leben zurückrufen, und er sollte dann ihr Führer werden.
Auch drei Medizinmänner tanzten.
Ihre verschwitzten Körper glänzten im Vollmondlicht.
Da bewegte sich in der Grube etwas. Der Verstorbene
reckte sich und richtete sich auf.
Völlige Stille! Die Menschen verharrten wie zu Stein
erstarrt.
George hörte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen.
Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß diese Gesellschaft etwas im Schild führte. Der
Zombie stieg aus dem Grab, das man freigeschaufelt hatte. Er war mit feuchter,
krumiger Erde bedeckt, die auf seinem Gesicht und in seinen Haaren klebte.
Der Zombie wurde an eine für ihn bestimmte Stelle
geführt. Ein thronartiger Aufbau war vorbereitet worden, auf den er sich setzen
sollte.
Plötzlich schrien alle durcheinander. Der Bann war
gebrochen.
Männer sprangen in die Höhe. Sie hatten Moia entdeckt!
Mit brutaler Gewalt zogen sie ihn in die Mitte des Festplatzes, der nun mit
einem Male Opferplatz des Teufels werden sollte.
Moia schrie nur ein einziges Mal auf.
Das Messer eines Medizinmannes bohrte sich tief in
seine Brust und traf sein Herz.
Moia brach zusammen.
George kauerte in der Dunkelheit, und der Angstschweiß
brach ihm aus allen Poren. Er war unfähig, sich zu rühren und davonzulaufen.
Wie gelähmt hockte er da, und Zentnergewichte schienen seine Schultern
herabzudrücken.
Angst und Neugierde hielten sich die Waage, und er
konnte den Blick nicht von dem, was er zu sehen bekam, wenden.
Sie ließen Moias Körper ausbluten.
Dann setzten die Trommeln wieder ein.
Wilder und lauter als zuvor.
Wie durch einen Nebelschleier nahm George die Szene
wahr.
Die drei Medizinmänner schnitten Moias Glieder ab und
verteilten sie unter den Anwesenden.
Und in diesem
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