1022 - Der Lockvogel
willst, legen wir uns nieder und schlafen ein paar Stunden.«
»Nicht schlecht.«
»Sofort – oder…«
»Nein, ich bin mehr für das Oder. Laß uns noch eine Stunde fahren. Wenn du dich nicht mehr frisch genug fühlst, kann ich das Lenkrad übernehmen. Das macht mir nichts.«
»Du siehst aber müde aus.«
»Das täuscht.« Sie ging die wenigen Schritte zurück zum Wagen.
»Aber ich habe Hunger.«
»Proviant ist da.«
»Willst du auch was?«
»Ja, die Dose mit Cola und etwas von den Keksen.«
»Okay, ich hole die Sachen.«
Ich hockte mich auf einen Stein und streckte die Beine aus. Jane hatte recht. Weshalb sollten wir rasen und womöglich noch die Maschine verpassen? Ich hatte mich von Suko überreden lassen, aber so wichtig war es nicht, wann wir in London eintrafen. Hauptsache, wir erreichten die Stadt und konnten die Neugierde unserer Freunde befriedigen, die sich starke Sorgen um uns gemacht hatten.
Jane kramte auf dem Rücksitz herum. Wenig später war sie wieder bei mir. Zwei Dosen mit Cola, dazu die Kekse, die nicht süß waren, sondern etwas nach Käse schmeckten.
»Ein tolles Essen«, lobte ich.
»Besser als nichts.«
»Ich habe nicht gesagt, daß es mir nicht schmeckt.«
»Aha.«
Wir kauten auf den Keksen herum, die ziemlich trocken waren.
Beinahe schon staubig. Dabei hingen wir beide unseren Gedanken nach, ließen die Blicke nach vorn gleiten, hinein in die dunkle Landschaft, in der die Unterschiede allmählich verschwammen. Manchmal hatte das Mondlicht freie Bahn, dann traf es auch die Oberfläche der kleinen Gewässer und gab ihnen einen schon märchenhaften Glanz. Ein romantisches Bild, aber als Romantiker fühlten sich Jane und ich nicht.
Jane beschäftigte sich bestimmt mit dem, was sie noch verarbeiten mußte, aber meine Gedanken drehten sich mehr um das Land, in dem wir uns aufhielten.
Schottland!
Hier hatten auch meine Eltern gelebt. Hier stand das Haus, das jetzt mir gehörte, noch leer. Ich wollte immer wieder mal zurückkehren, aber ich hatte noch nicht die Kurve gekriegt. Innerliche gab es da eine Sperre, mit der ich selbst nicht zurechtkam. Es lag auch möglicherweise daran, daß meinen Vater ein Geheimnis umgab, von dem ich bisher so gut wie nichts wußte. Es hing mit dem äthiopischen König Lalibela zusammen, der auch in der Neuzeit nicht vergessen war. Irgendwann würde ich soweit sein und mich auf die Suche nach diesem Rätsel machen. Die Gräber meiner Eltern wurden gut gepflegt, dafür hatte ich gesorgt, aber auch dorthin traute ich mich noch nicht, denn immer plagten mich gewisse Schuldgefühle.
»Du bist so stumm, John.«
»Klar, ich esse.«
»Das ist es nicht.«
»So? Was dann?«
»Deine Gedanken beschäftigen sich mit etwas anderem.«
»Da hast du recht.«
»Und womit?«
»Mit allem möglichen.«
Jane schüttelte den Kopf. »Nein, John, das stimmt nicht. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck bei dir. Vor allen Dingen habe ich ihn in der letzten Zeit schon oft genug erlebt. Ich glaube nicht, daß du dich mit Doriel und Lilith beschäftigst. Es ist die Gegend hier. Schottland, wo auch Lauder liegt…«
»Leider ja.«
Jetzt war sie es, die mich trösten wollte. Sie rückte nahe an mich heran und strich über mein Haar, wie es früher meine Mutter immer getan hatte. »Es hat doch keinen Sinn, wenn du dich aufreibst, John. Nimm es so hin, du kannst es nicht ändern.«
»Nein, das nicht.«
»Und deine Vorwürfe sind ebenfalls unnötig.«
»Ich weiß es nicht, Jane. Du kennst mich. Ich werde den Fall noch einmal aufrollen müssen, sonst werde ich in meinem Leben nicht mehr froh. Da gibt es etwas, das auf eine Auflösung wartet und das ich leider vergessen habe.«
»Soll ich dir jetzt sagen, denk nicht mehr daran?«
»Wäre nicht schlecht, aber so leicht ist es nicht zu schaffen. Besonders hier nicht.«
»Okay, ich begreife das.« Sie räusperte sich. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann…«
»Nein, Jane, das ist eine Sache, die ich allein durchstehen muß. Ich werde es auch packen. Irgendwann bin ich soweit, um nach Lauder fahren zu können, um im Haus meiner Eltern zu übernachten. Es kann ja sein, daß ich dort den roten Faden finde und ihn bis zum Ziel verfolge. Noch bin ich nicht in der Lage.«
»Brauchst du einen Kick?«
»Nein, nein«, widersprach ich. »So kann man das nicht nennen. Vielleicht benötige ich einen Grund, das paßt eher. Es kann sein, daß zuerst etwas passieren muß, mit dem ich dann…«
Jane deutete nach vorn. »Da ist ein
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