1044 - Die Braut des Engels
war nicht leicht, weil sich eben Schatten und Licht abwechselten. Interessanter war schon die linke Seite, denn sie strahlte etwas Schlimmes, Böses und auch Unheimliches ab, mit dem Jane nicht zurechtkam.
Wer war diese Gestalt?
Sie hatte diese Frage nur in Gedanken formuliert, doch der andere gab eine Antwort, als hätte er sie schon gestellt bekommen.
»Ich bin Kalim, der Engel. Ich habe mein Reich verlassen, um Götter zu zeugen. Lilian wollte nicht mehr. Sie hat den Tod vorgezogen. Für sie brauche ich Ersatz, und dich habe ich als ihre Nachfolgerin ausgesucht…«
***
Wir waren möglichst in Deckung geblieben, als wir den See umgingen. Die Zeit lief ab, und auch der graue Tag neigte sich allmählich dem Ende entgegen. Die anschleichende Dämmerung machte ihn noch grauer und trüber. Die Gegend nahm eine schon konturenlose Form an. Sogar der See schien in dieses Grau einzutauchen.
Es waren die langen Momente zwischen Tag und Traum, die so romantisch sein konnten, auch in der kühlen Jahreszeit. Davon merkten wir beide nichts. In der Luft lag unsichtbar eine seltsame Spannung, und der See war zudem dabei, die Welt in zwei Hälften zu teilen. Auf der einen Seite lag das Dorf wie ein ruhiger verschwommener Lichtfleck mit all seinen Bewohnern, die sich jedoch nicht blicken ließen, so daß über Temple die Glocke des Schweigens lag.
Auf der anderen Uferseite verteilten sich die Häuser der Engelkinder. Nicht durch die Finsternis verschluckt, in der grauen Suppe der Dämmerung liegend, dabei schwach beleuchtet, denn auch hinter dieses Fenstern schimmerte der Schein.
Zwar hatten wir versucht, Deckung zu finden, nur war es schwer gewesen. Hier wuchsen keine Bäume. Die Ufernähe war flach, und kein hohes Gras gab uns Schutz. Verkrüppelte Büsche sowie immergrüne Gewächse mit fleischigen Blättern verteilten sich in unterschiedlichen Entfernungen. Der Wind war flau, aber er fuhr über das Wasser hinweg und schaffte uns auch die Kälte entgegen, die er von der dunkelgrünen Oberfläche abgeschabt zu haben schien.
Wir hatten den Steg gesehen, der in den See hineinführte. Allerdings kein dort vertäutes Boot. Mir war die Idee gekommen, daß Suko eventuell überwältigt und in einem Boot weggeschafft worden war, denn einen wegfahrenden Wagen hatten wir nicht gehört.
Evita ging neben mir. Sie sagte sehr wenig. Wenn sie redete, sprach sie mehr zu sich selbst. Hin und wieder strich sie auch über ihr Gesicht, als wollte sie dünne Spinnweben abwischen. Manchmal faßte sie nach meiner Hand und drückte sie kurz. Ich lächelte ihr dann jedesmal aufmunternd zu, und Evita lächelte zurück.
»Komisch«, sagte sie, als sie wieder einmal meine Finger umfaßt hatte. »Es ist wirklich komisch.«
»Was denn?«
»Daß ich keine Angst mehr habe.«
»Ist auch gut.«
»Weißt du, warum ich die Angst nicht mehr spüre, John?«
»Nein, aber du wirst es mir sagen.«
»Klar. Weil ich weiß, daß du es schaffst.«
»Sicher.«
Meine Antwort hatte zwar überzeugend geklungen, ich selbst allerdings zweifelte schon daran, denn hier standen mir Feinde gegenüber, die stark waren. Eine derartige Reaktion oder Manipulation meines Kreuzes hatte ich noch nie erlebt. Es war einmal warm, dann wieder kalt gewesen, ein Phänomen, ein Rätsel. Auf der anderen Seite stand für mich fest, daß sich hinter den Engelkindern eine gefährliche Macht aufgebaut hatte, die sogar in der Lage war, mein Kreuz zu manipulieren. Eine Engelmacht, nur keine positive, und meine Gedanken glitten automatisch zu dem Wesen hin, das der absolute Herrscher im Reich des Bösen, der Dunkelheit und der Schatten war.
Es gab da nur einen: Luzifer!
Er war es, der letztendlich hinter allem stand. Nicht zu fassen, nicht in den Griff zu bekommen, ein Geist, der sich auch in die Psyche der Menschen hineinbohrte und es immer wieder schaffte, viele von ihnen unter Kontrolle zu bekommen. Luzifer war das Böse schlechthin, das absolut Böse, entstanden, als sich ein Teil der Engel gegen den Allmächtigen auflehnte, um gottgleich zu sein.
Sie hatten verloren. Der Erzengel Michael hatte den Thron verteidigt und Luzifer in die endgültige Finsternis gestoßen, wo er für immer bleiben sollte.
Das war auch so geblieben, aber er hatte nicht aufgegeben und von seinem Reich her erneut die Fäden gesponnen, um die Menschen auf seine Seite zu ziehen.
Menschen sind keine Gefangenen. Sie können frei entscheiden, zu wem sie tendieren. Es gab nicht wenige, die dem Einfluß
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