1060 - Die Mystikerin
nachzudenken, was eigentlich geschehen war.
Zuerst das Erscheinen des Zuhälters. Seine brutalen Schläge, danach der Versuch, sie zu vergewaltigen und dann das Erscheinen und auch das Eingreifen dieser seltsamen Mystikerin, die auf den ungewöhnlichen Namen Hildegarda hörte.
Wer war sie?
Zitternd und frierend dachte Ginny darüber nach. Konnte man sie als Menschen bezeichnen? Oder war sie ein Geist? War sie vielleicht beides in einem?
Was Ginny durchlitten und erlebt hatte, das widersprach aller Logik. Aber jetzt ging es um sie und auch darum, daß in ihrem Zimmer ein Toter lag. Ein erstochener Zuhälter, dessen Tod man ihr anhängen würde.
»Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Wieder brach es aus ihr hervor, und dabei flossen die Tränen. Sie warf sich auf das Bett und drückte ihr Gesicht auf die Matratze. So kam sie nicht weiter. Die Bullen würden ihr kein Wort glauben und sie einsperren. Auf so etwas hatte sie nur gewartet. Das war für sie sonnenklar, auch wenn sie keine Waffe hier im Zimmer finden würden.
Sie fing an, die Mystikerin zu verfluchen. Da konnte ihr diese Hildegarda alles mögliche versprechen, vor der Polizei würde sie Ginny kaum schützen können. Okay, Rocco war ein Schwein gewesen.
Er hätte sie auch vergewaltigt, aber sie hätte überlebt und in zwei, drei Tagen vielleicht weitermachen können.
Jetzt nicht mehr. Der Puff war zu einem Gefängnis geworden. Es würden auch keine Stammkunden mehr kommen, die auf Typen wie Ginny standen.
Alles hatte sich radikal verändert. Mit diesem Gedanken stemmte sich die Frau hoch. »Für den Arsch ist alles geworden!« keuchte sie.
»Verdammt noch mal!«
Verheult wie sie war, drehte sie sich auf der anderen Seite aus dem Bett, blieb für eine Weile dort stehen und hütete sich, auf den toten Rocco zu blicken.
Neben dem Fenster stand eine brüchig aussehende Kommode. Sie bewahrte dort Handtücher, Kondome und andere Dinge auf. Unter anderem auch ihre Kleidung, die sie außerhalb des »Dienstes« trug.
Diesmal waren es eine hellblaue Jeans und ein knallroter Pullover.
Die Jacke aus ochsenblutfarbenem Kunstleder hing neben der Tür an einem Haken.
Ginny zog sich an.
Sie starrte dabei ins Leere. Zum Schluß schlüpfte sie in die Stiefeletten. An den Seiten mußten sie durch das Hochziehen von Reißverschlüssen geschlossen werden.
Den rechten schaffte sie, den linken nicht mehr. Plötzlich wurde die Tür nach innen gestoßen. Carlita, ihre farbige Nachbarin, stand im Zimmer. Ein Blick reichte ihr, um die Lage zu erfassen. Ginny wollte noch etwas erklären, aber sie kam nicht mehr dazu, denn Carlita schrie los wie am Spieß…
***
Plötzlich war alles anders geworden. Auch bisher hatte ich mich zusammen mit Jane Collins in der Realität befunden, sie aber war förmlich explodiert, als die schreiende Amy messerschwingend auf die Detektivin zulief.
Sie war nicht zu bremsen. Amy hatte sich in eine mordlüsterne Furie verwandelt, die nur Blut sehen wollte. Wir konnten sie genau sehen, besonders ihr Gesicht fiel auf. Und darin stand einfach der Wille zum Mord zu lesen. Es war etwas Urhaftes, ein alter Trieb, der alle Barrieren durchbrochen hatte. So mußte sie auch den Land- und Stadtstreicher umgebracht haben. Mit der gleichen Intensität, mit diesem eisenharten Willen.
Der Zeitverlauf kam mir – wie so oft – in diesen Sekunden verlangsamt vor. Ich selbst bewegte mich normal, auch Jane tat es, und Amy erst recht.
Dennoch war es anders. Streß, Überraschung. Überlegen, was zu tun ist, die schnelle Entscheidung, die gefordert wurde. Das Stoppen der Frau durch eine Kugel.
Wir hätten es geschafft. Es wäre Zeit genug gewesen, die Waffen zu ziehen und zu schießen.
Jane und ich taten es nicht. Wir hatten uns nicht abgesprochen, doch beide verfolgten wir die gleichen Absichten. Nur nicht töten, wenn es auch anders ging. Außerdem gehörten wir zu den Menschen, die sich wehren konnten.
Amy schrie. Sie rannte. Sie schlug zweimal den rechten Arm mit dem Messer nach unten, holte dann wieder aus, um die richtige Haltung zu bekommen, denn sie wollte Jane erwischen.
»Weg!« schrie ich Jane zu.
Es ging nicht. Sie kam nicht weg. Der Gang war zu eng. Doch Jane Collins erkannte auch so ihre Chancen. Bevor Amy ein drittes Mal zustoßen konnte, drückte sie sich zur Seite. Sie hatte dabei genau den richtigen Zeitpunkt abgepaßt. Jane preßte sich gegen die Wand und stellte ein Bein vor.
Amy sah es nicht. Ihr Blick war nach vorn gerichtet, und so
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