1060 - Die Mystikerin
geriet sie in die Falle.
Plötzlich kam sie aus dem Rhythmus. Die heftige Stoppbewegung katapultierte sie nach vorn. Ich schaute in ihr entsetztes Gesicht. Ich sah die weit aufgerissenen Augen und las auch den Unglauben darin. Die Hand mit dem Messer war nach unten gestoßen. Für einen Moment hatte es sogar für Amy schlecht ausgesehen. Sie hätte sich mit dem Messer zu leicht selbst verletzen können, doch sie geriet rechtzeitig genug ins Stolpern, wurde nach rechts gedrängt und fiel dabei seitlich gegen die Wand, über die die Klinge kratzend hinwegschabte und dabei eine lange Furche hinterließ. Dann fiel sie endgültig zu Boden. Das Schleifen an der Wand hatte ihr viel von der Wucht genommen, so daß Amy nicht zu hart aufprallte. Sie war sekundenlang benommen, und genau diese Zeitspanne nutzte ich aus.
Jane befand sich noch hinter ihr. Sie hatte sich gedreht und schaute mir zu.
Schnell trat ich einen Schritt vor und stellte meinen Fuß auf Amys rechtes Handgelenk.
Es war schmerzhaft für sie, aber ich hörte nichts, keinen Laut, keinen Schrei. Ich sah nur das Zucken der Lippen. Verbunden mit dem Blick, der mich von unten her traf.
»Laß es los!«
Amy wußte genau, was ich damit gemeint hatte. Dennoch zögerte sie. Dann öffneten sich die Finger. Die Faust verschwand, die gestreckte Hand lag vor mir, darauf das Messer, das Jane Collins mit einem schnellen Tritt zu Seite beförderte.
Amy war entwaffnet.
Ich hob meinen Fuß wieder an und ging einen kleinen Schritt zurück. Auf dem Rücken blieb die junge Frau liegen. Sie holte keuchend Luft. Ihre Augen bewegten sich wild. Sicherlich zuckten Mordgedanken durch ihren Kopf, doch sie mußte einsehen, daß sie diese nicht in die Tat umsetzen konnte.
»Es ist besser, Amy, wenn Sie nichts mehr versuchen«, sagte ich.
»Sie würden immer den Kürzeren ziehen. Vielleicht können wir uns sogar unterhalten.«
Sie wartete noch ab. Versuchte, in unseren Gesichtern zu lesen, die ihr nichts von unseren Plänen bekannt gaben. Sie blieben völlig ausdruckslos.
»Nun?«
Amy zog ihre Beine an. Sie stand auf. Jane wollte ihr behilflich sein, wurde aber abgeschüttelt, denn Amy ließ sich nicht einmal richtig anfassen.
Als sie schließlich stand, schaute sie hastig nach rechts und links.
Wie jemand, der einen Ausweg sucht. Für sie aber war keiner zu finden. Auf der einen Seite blockierte ihr Jane Collins den Weg, auf der anderen ich. Sie stand zwischen uns.
Ich fing Janes fragenden Blick auf und nickte ihr zu, da ich wußte, was sie wollte. Amy war eine Frau, Jane ebenfalls, und da war es besser, wenn von Frau zu Frau gesprochen wurde. Vielleicht gelang es Jane, das Eis zu brechen.
Ich wunderte mich auch über Amys Outfit. Abgesehen davon, daß ihr Kleid oder langes Hemd blutbefleckt war, konnte ich mir nicht erklären, warum sie nur dieses Kleid trug, das bestimmt nicht wärmte und nicht zu den Witterungsbedingungen paßte. Dieses Kleid erinnerte mich irgendwie an eine Uniform, die in einer Klinik getragen wurde. Ob Amy von dort ausgebrochen war, wußte ich nicht.
Jane Collins wollte Amy nicht erschrecken und nicht schon von Beginn an gegen sie einnehmen, deshalb ließ sie den Mord an dem Stromer zunächst außen vor. Sie lächelte Amy an, bevor sie sagte:
»Ich soll dir einen Gruß von deinem Vater bestellen.«
»Ich will nicht.«
»Das kann ich mir denken. Du willst ihn nicht, aber er möchte dich, wenn du verstehst. Er hat dich nicht aufgegeben. Er wollte, daß ich dich finde, und das ist geschehen.«
Amy ballte die Hände zu Fäusten. »Ich… ich … gehe nicht zu ihm, verstehst du? Ich will es nicht mehr. Ich gehöre einer anderen. Ich habe eine neue Beschützerin bekommen. Sie hat mich aus dem Dreck hervorgeholt. Ich werde nur ihr gehorchen.«
»Du meinst diese Hildegarda?«
»Ja!«
»Wer ist sie?«
»Eine Heilige. Ein Engel. Etwas Wunderbares für mich. Sie hat mir den neuen Weg gezeigt. Ich werde auch nicht zögern, ihn anzunehmen. Ich gehe zu ihr, und ich werde dann immer bei ihr bleiben. Mein Vater ist für mich gestorben.«
Jane nickte. »Ich weiß ja nicht, was alles zwischen euch vorgefallen ist, doch du bist alt genug, und ich muß es aktzeptieren. Ich werde deinem Vater also mitteilen, daß du nicht mehr zu ihm zurückkommst.«
»Ja, mach das!«
Jane lächelte fein. »Könnte er dich denn eventuell besuchen kommen, Amy?«
Mit dieser Frage hatte die junge Frau nicht gerechnet. Sie starrte Jane an, als hätte sie ihr etwas Schreckliches
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