1060 - Die Mystikerin
gesagt. Das Gesicht war bleich geworden, und ihr Blick zeigte Unverständnis. »Wieso besuchen?« flüsterte Amy. »Wo soll er mich denn besuchen können? Er weiß nicht, wohin ich gehe. Ich werde von Hildegarda geführt, daran solltet ihr denken. Hildegarda ist meine Meisterin. Und dorthin wird mein Vater nicht kommen. Das läßt sie nicht zu.«
»Tja, Amy«, sagte Jane Collins und seufzte. »Es tut mir ja leid, daß ich dich enttäuschen muß, aber das ist nun mal so. Deine Pläne werden sich nicht erfüllen, Amy. Ich muß es dir immer wieder sagen.«
»Und warum nicht?«
»Weil es nicht möglich ist, daß du zu Hildegarda kannst. Es wird für lange Zeit ein Traum bleiben.«
Amy verstand zuerst nicht. Als sie dann etwas begriff, war sie auf der falschen Spur. »Wollt ihr mich umbringen? Oder wollt ihr mich zu meinem Vater zerren?«
Jane schüttelte den Kopf, gab mir aber mit einem kurzen Blick ein Zeichen, damit ich das Wort übernehmen konnte. »Nein, Amy, so ist das nicht gemeint.«
Sie starrte mich jetzt an. Kalt. Stand auch sprungbereit auf der Stelle und fand Halt an der Wand. »Was willst du?« fuhr sie mich an.
»Los, sag es!«
»Ich möchte dich daran erinnern, daß in einem dieser Zimmer hier ein Toter liegt. Du hast ihn umgebracht, Amy. Deshalb bist du eine Mörderin. Ich erkläre es dir deshalb so genau, damit du dir keine weiteren Illusionen machst. Du wirst nicht zu Hildegarda, wer immer das auch sein mag, zurückkehren können. Wir sind von der Polizei. Wir werden dich leider mitnehmen müssen und in eine…«
»Was? Was?« schrie sie mich an. »Was wollt ihr tun, ihr verdammten Schweine? Mich mitnehmen? Niemand nimmt mich mit. Sie wird es nicht zulassen. Ich gehöre Hildegarda. Keiner sperrt mich ein, das schwöre ich…«
»Du hast einen Menschen getötet«, sagte Jane leise.
»Na und?« Amy trat mit dem Fuß auf. Sie war wütend. Sie atmete heftig. Auf ihren Wangen malten sich rote Flecken ab. »Er hat es verdient gehabt, versteht ihr? Er hat es richtig verdient gehabt. Er wollte mich vergewaltigen.« In der Erinnerung an das Geschehene bekam ihr Blick etwas Wildes. Heftig atmete sie ein und aus und wirkte auf uns wie jemand, der jeden Augenblick fliehen will.
»Es bliebt trotzdem ein Mord«, sagte ich. »So sehr ich dich auch verstehen kann, Amy.«
»Nein, nein! Mich kann niemand verstehen, außer einer Person. Hildegarda ist die einzige.« Ihre Worte hörten sich so schwärmend an. Sie lächelte sogar dabei; diese geheimnisvolle Person mußte ihr wahnsinnig viel bedeuten.
»Und dort willst du hin?« erkundigte sich Jane.
»Ich werde hinkommen.«
»Tut mir leid, Amy. Ich will dich nicht enttäuschen, aber John Sinclair hat recht. Wir müssen dich den Kollegen übergeben. Du wirst in Untersuchungshaft kommen, und anschließend…«
»Ihr wollt mich verhaften?«
»Darauf läuft es hinaus!«
»Habt ihr auch an Hildegarda gedacht?«
»Nein, haben wir nicht. Aber sie wird kaum erscheinen und dir helfen können. Das ist eine Sache, die durchgezogen werden muß. Das Gesetz verlangt es so. Möglicherweise wird sie dich in der Haft besuchen. Dazu müßte sie sich mit uns in Verbindung setzen.« Ich baute ihr ein Brücke. »Wie wäre es, wenn du uns sagst, wo wir Hildegarda finden können? Dann setzen wir uns mit ihr in Verbindung und erklären ihr, was geschehen ist. Wenn du für sie so wertvoll bist, wird sie bestimmt nicht zögern, dich zu besuchen. Ist das ein Vorschlag, mit dem du dich anfreunden kannst?«
Amy gab die Antwort, ohne zu überlegen. »Nein, damit kann und werde ich mich nicht anfreunden.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht soweit kommt. Ihr redet immer von der Zelle, in die ich eingesperrt werden soll. Das aber ist ein Irrtum, eine Lüge, eine Wahnvorstellung für euch. Sie kommt nicht in die Zelle, weil ich gar nicht dort bin.«
Jane Collins wollte die Diskussion beenden, was auch in meinem Sinn war. »Wenn du das meinst, ist es okay, Amy. Jeder hat eben seine Vorstellungen.«
»Du bist so arrogant!«
»Bestimmt nicht.«
Amy schaute uns abwechselnd an. »Und jetzt? Wollt ihr mich von hier wegschaffen?«
»Darauf läuft es hinaus« sagte ich. »Du kommst weg, die Kollegen werden hier erscheinen, sie werden den Tatort untersuchen, und sie werden auch deine Fingerabdrücke auf der Waffe finden. Eine Frage dazu. Woher hast du das Messer?«
»Sie gab es mir. Hildegarda wollte, daß ich nicht schutzlos bin. Es war gut, daß ich es hatte. So konnte ich mich gegen ihn
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