1060 - Die Mystikerin
Kollegin, die Rocco haßte. Sie haben ihn doch auch gehaßt – oder?«
»Ja, nicht gerade geliebt. Es war keine Kollegin, sondern eine Geisterfrau.«
Tanner schwieg. Er tobte nicht. Er lachte Ginny nicht aus, er sagte erst mal nichts. Ginny, die ihn von der Seite her beobachtete, wunderte sich über seine Reaktion, denn Tanner legte seine Stirn in noch tiefere Falten, wie jemand, der über ein bestimmtes Problem grübelt.
»Jetzt hat es Ihnen die Sprache verschlagen, wie?«
»Für den Moment schon.« Tanner fuhr mit dem Zeigefinger über seine linke Wange. »Wenn Sie von einer Geisterfrau sprechen, Ginny, dann müßten Sie mir das näher erklären.«
Sie lachte scharf. »Es hört sich an, als würden Sie mir glauben.«
Tanner lächelte verschmitzt. »Kann sein.«
Ginny schwieg. Sie war überrascht worden. »Ein Bulle, der an Geister glaubt?« hauchte sie.
»Ja, manchmal muß man umdenken. Auch Polizisten glauben an das, was man Ihnen sagt. Aber wenn ich wirklich daran glauben soll, dann bitte von Beginn an.«
Sie griff nach einer neuen Zigarette. »Wie meinen Sie das denn, Chief Inspector?«
»Ganz einfach. Sie erzählen mir, was Rocco von Ihnen gewollt hat. Wir sehen ihn ja hier. Er trug nur noch seine Unterhose und ein Hemd, das ist alles.«
»Stimmt.« Sie nickte vor sich hin. »Er hat mich vergewaltigen wollen.«
»Können Sie das genauer sagen?«
»Ich habe zu wenig Geld gebracht. Er hat mich zuvor auch geschlagen. Rocco ist kein Engel, sondern das Gegenteil. Ein verdammter Teufel, und das wiederum wollte er mir mit aller Macht beweisen.«
»Aha.«
»Mehr sagen Sie nicht?«
»Ich höre zu, Ginny. Sie wollten ja von vorn beginnen.«
»Meine Güte, sind Sie klebrig.«
Tanner lachte. Wartete ab. Ginny überlegte. Sie ärgerte sich selbst darüber, daß sie plötzlich Vertrauen zu diesem Polizisten gefaßt hatte. Sonst waren Leute wie Tanner ein rotes Tuch für sie, hier aber lief es plötzlich anders. Außerdem war sie froh, den Druck endlich loszuwerden. Innerlich fühlte sie sich gedrängt, und so brach es wie ein Strom aus Worten aus ihr hervor.
Ginny Cramer redete, und der Chief Inspector hörte ihr sehr genau zu. Sie sprach ohne Punkt und Komma. Sie war froh, endlich etwas sagen zu können. Immer wieder wies sie darauf hin, wie brutal Rocco gewesen war, und daß er sie zum Schluß hatte fertigmachen wollen. Bis sie erschienen war mit einem Messer.
»Die Geisterfrau?«
»Ja.«
»Kennen Sie die Person?«
»Nein, ich habe sie heute zum erstenmal gesehen und auch gehört. Aber sie hat mich schon vorher angesprochen, als an ihr Erscheinen noch nicht zu denken war. Ich hörte eine geisterhaft klingende Stimme, und ich habe niemand gesehen. Nicht in meiner Nähe, aber die Stimme war trotzdem vorhanden. Sie erklärte mir, daß ich keine Angst zu haben brauche.« Ginny berichtete weiter über ihre Gefühle, und Tanner unterbrach sie mit keinem Wort.
Er sagte auch nichts, als sie auf den Kern des Problems kam, auf das Erscheinen der Mörderin. Er ließ sie reden und auch vom Mord berichten. Ginny erzählte alles so, wie sie es erlebt hatte, bis zum Verschwinden der geheimnisvollen Frau.
»Können Sie noch einmal ihren Namen wiederholen?«
»Hildegarda.«
»Gut. Und sie hat Ihnen erklärt, wer sie ist? Eine Mystikerin, wie Sie sagten?«
»Ja. Aber mehr weiß ich auch nicht.«
»Sprach sie nicht von einem Schutz?«
Ginny nickte. »Den wollte sie mir in der Tat geben. Einen Schutz für die Zukunft. Für die nächsten Wochen oder Jahre vielleicht, aber das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls erklärte sie mir, daß ich keine Angst haben müßte.«
»Vor uns? Vor den Leuten, die Sie möglicherweise in Verdacht haben, jemand getötet…«
»Vielleicht meinte sie das, Mr. Tanner. Das kann ich aber nicht glauben. Es ging um andere Dinge. Ich bin auch davon überzeugt, daß ich sie nicht zum letztenmal gesehen haben. Sie wird wiederkommen. Sie wird mir hier erscheinen, daran glaube ich fest.« Ginny nickte. »Das war nicht das letzte Mal.«
Tanner stand auf, und Ginny schaute zu ihm hoch. »Werden Sie mich jetzt verhaften?«
»Zumindest mitnehmen.«
»Und dann?«
Er zuckte mit den Schultern. »Würde ich Sie gern mit einem Freund von mir bekannt machen.«
»Was soll das schon wieder?«
»Kein Sorge, dieser Mann wird auf Ihrer Seite stehen, Ginny. Er heißt John Sinclair.«
»Den kenne ich nicht.«
»Das macht nichts. Ich kann Ihnen nur sagen, daß er Ihre Aussagen als sehr interessant
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