1060 - Die Mystikerin
Hildegard von Bingen…«
»Vergiß es, John«, flüsterte sie heiser. »Dieses Kloster gibt es nicht mehr. Die Schweden haben es während des Dreißigjährigen Krieges zerstört. Es ist nicht mehr viel von Hildegard von Bingen zurückgeblieben. Natürlich. Natürlich ihr Standardwerk ›Wisse die Wege‹ und die Pfarrkirche von Eibingen, die Grabeskirche der Hildegard von Bingen. Im goldenen Schrein vor den Altarstufen sind ihre Reliquien verborgen. Außerdem gibt es oberhalb von Eibingen ein neues Kloster, die Abtei St. Hildegard, in der Benediktinerinnen leben und versuchen, das Erbe der Heiligen lebendig zu halten. Sie bemühen sich besonders, den Menschen die Botschaft der Hildegard nahezubringen. Aber das ist schwer. Man hat sie mal als die Posaune Gottes bezeichnet. Doch die anderen Legenden um sie herum haben sich eher gehalten und kommen den Menschen besser zupaß.«
»Wie meinst du das?«
»Es geht um Kräuterkunde, Küchenmedizin, Kochrezepte und so weiter. Da hat sich eine Industrie darangehängt, aber das ist wohl nicht mehr unser Thema.«
»Sicherlich nicht.«
Sie räusperte sich wieder die Kehle frei. »Bist du denn davon überzeugt, John, daß Hildegard von Bingen etwas mit den Taten zu tun hat?«
»Nein, auf keinen Fall«, sagte ich. »Wir suchen ja eine Hildegarda. Und das ist etwas völlig anderes.«
»Die aber in ihrem Namen existiert.«
»Das mag wohl sein.«
»Gut.« Ich hörte sie lachen und zugleich die Luft auspusten. »Das Reden hat mich ziemlich angestrengt. Ich bin doch nicht ganz fit. Da kann dir Harry mehr und besser helfen.«
»Wo finde ich ihn?«
»Er hat sich in Bingen einquartiert, weil er einfach das Gefühl hat, dort an der richtigen Stelle zu sein. Seine Handy-Nummer hast du?«
»Noch nicht.«
»Dann hör zu.«
Ich notierte sie mir und versprach Dagmar zum Abschied, in Deutschland bei ihr vorbeizuschauen. Als ich den Hörer auflegte, mußte ich zunächst mal tief durchatmen und meine Gedanken ordnen.
Den anderen erging es ähnlich. Wir alle mußten uns durch den Kopf gehen lassen, was wir gehört hatten.
Jane Collins sprach als erste. »Dann ist die Spur ja klar. Sie führt uns zum Rhein.«
Ich nickte. »Du sagst es.«
»Wann besorgst du die Tickets?«
»Willst du mit?«
Jane warf mir einen scharfen Blick zu. »Diese Frage habe ich nun nicht erwartet, weil sie einfach zu blöd ist. Auch wenn du mit Harry Stahl zusammenarbeitest, ich bin trotzdem dabei. Schließlich geht es hier um Frauen.«
Dagegen war nichts zu sagen. Ich hätte Jane schon einsperren müssen, um sie im Haus zu behalten.
»Dafür trete ich dann zurück«, sagte Suko, »und halte hier die Stellung.«
»Gut, da wird sich Sir James freuen. Einen muß er ja haben, der ihm die Zeit verkürzt.«
»Stimmt, Jane, wir pokern neuerdings immer.«
»Wer gewinnt denn?«
»Immer ich. Und das Geld kommt dann in die Kaffeekasse. Stimmt es, Glenda?«
»Du sagst es, Suko…«
***
Der Wind über dem Fluß hatte die Wolken des Tages zwar vertrieben, es aber nicht geschafft, die Dämmerung zurückzuhalten. Und so war sie heimlich, still und leise über das Land gekrochen, hatte sich in das Rheintal mit dem gewundenen Flußlauf hineingedrückt, war dann an den Flanken der Weinberge in die Höhe gekrochen und hatte auch die kleinen Orte, die sich an beiden Ufern verteilten, mit ihrem grauen Schleier überdeckt.
Es war noch nicht viel los in den weltberühmten Weinorten am Rhein, die selbst im fernen Japan besungen wurden und in den Sommermonaten Ströme von Touristen anzogen, die besonders scharf darauf waren, die Loreley zu sehen, die durch den Text eines gewissen Heinrich Heine weltberühmt geworden war.
Eine mystische Gestalt, die auf der Kuppe eines Berges saß, sich ihr langes Haar kämmte, die Fischer dabei ablenkte, so daß sie ihre Boote in die Stromschnellen hineinlenkten oder an irgendwelchen Klippen zerschellten.
Ein Märchen, eine Legende. Es gab keine Frau, die sich auf dem Berg ihr Haar kämmte. Trotzdem waren die Menschen davon fasziniert, denn dieser ins Wasser hineinragende Loreley-Felsen wurde fast schon mythisch verehrt.
Dichte, mit Weinreben bewachsene Bergflanken zu beiden Seiten des Flusses. Weiter oben der dichte Wald, aus dem in früheren Zeiten mächtige Burgen hervorgeragt hatten.
Auch heute gab es noch zahlreiche Burgen, die längs des Rheins besichtigt werden können. In einigen kann nicht nur gegessen und getrunken werden, man bietet Übernachtungen an, und es laufen im
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