107 - Turm der Menschenmonster
„Guten
Abend“, sagte er, als er auf ihrer Höhe stand. „Das ist ja ein scheußliches
Wetter heute. Man sieht kaum die Hand vor Augen. Da sollte man am liebsten zu
Hause im Lehnstuhl sitzen und fernsehen, egal, was das Programm bietet.“
Sie lächelte. „Wenn man das kann, ja. Aber es
gibt eben Fahrten, die sind nicht aufschiebbar. Ich habe vor einer halben
Stunde einen Anruf erhalten, wonach meine Mutter einen schweren Herzanfall
erlitten hat. Es steht sehr schlecht um sie. Sie wollte uns gern noch mal
sehen, besonders Tony. . . das ist mein Junge, er ist
achtzehn. Wir haben uns gleich auf den Weg gemacht. Bis nach Lanka ist es bei
diesem Wetter noch eine Stunde. Und ausgerechnet jetzt läßt uns auch noch der
Wagen im Stich. Jetzt, wo es auf jede Minute ankommt.
Es ist zum Verzweifeln! Der Arzt ist
überzeugt davon, daß meine Mutter die Nacht nicht überleben wird. Sie würde
nicht mal den Transport ins Krankenhaus überstehen.“ Ihre Augen füllten sich
mit Tränen. Erst jetzt, da Larry so dicht vor ihr stand, sah er, wie blaß sie
war, daß sie sich nicht mal mehr die Zeit hatte nehmen können, einen
Lippenstift zu benutzen, geschweige denn Make-up aufzulegen. „Der Wagen ist
noch kein halbes Jahr alt. Er wird regelmäßig gewartet. Ich verstehe das nicht ..
„Sicher nur eine Kleinigkeit. Vielleicht sind
die Kerzen naß geworden. Ich schau‘ mal nach ..."
„Danke schön, vielen Dank!“
Die Kerzen waren einwandfrei. Die Kabel saßen
alle fest, und der Tank war fast voll. Larry Brent fand den Fehler nicht,
obwohl er von Autos viel verstand. Er unternahm mehrere Startversuche. Der
Motor knackste nur leise und sprang überhaupt nicht an.
„Es ist hoffnungslos“, sagte er nach zehn
Minuten. „Sie vergeuden nur Ihre Zeit. Schließen Sie den Wagen ab! Ich bringe
Sie in meinem Fahrzeug nach Lanak.“
„Das wollen Sie wirklich ..."
„Ja, kommen Sie!“ Der Amerikaner lief zu
seinem Austin zurück. Die kastanienbraune Frau winkte dem Jungen aus dem
Peugeot.
Tony kroch vom Hintersitz und sprang auf die
regen- und nebelfeuchte Straße. Er trug einen dicken Wollkragenpullover und sah
seiner Mutter sehr ähnlich.
Er wirkte zart und zerbrechlich,
unselbständig und viel jünger als achtzehn und musterte den fremden Mann mit
scheuer Zurückhaltung.
Larry öffnete die hinteren Türen, bat die
Frau mit ihrem Sohn Platz zu nehmen und klemmte sich hinters Steuer.
Er drehte den Zündschlüssel. Es machte nur ,knack “. Der Motor heulte nicht auf.
Ein neuer Startversuch... Wieder
nichts... Larry Brents Augen verengten sich
zu schmalen Schlitzen.
„Das gibt es doch nicht!“ entfuhr es ihm.
Er konnte machen, was er wollte. Der Austin
ließ sich nicht mehr starten. Und einen Fehler konnte X-RAY-3 nicht finden. Der
Tank war voll, die Kerzen und die Kabelverbindungen in Ordnung, der Anlasser
ebensowenig defekt wie das Zündschloß.
Es war das gleiche Rätsel, wie bei dem neuen
Fahrzeug vor ihm!
Larrys Miene war ernst, als er sich umwandte
und die Frau anblickte. „Scheint sich um eine ansteckende Autokrankheit zu
handeln“, sagte er mit einem Anflug von Galgenhumor. „Eine andere Erklärung
habe ich nicht. Oder aber, irgend jemand will, daß wir hier steckenbleiben -
und wir bleiben stecken!“
Die Frau war weiß wie eine Kalkwand. Ihr
Gesicht leuchtete hell im Fond des Wagens. „Tun Sie etwas, Mister! Um Himmels
willen, tun Sie etwas! Wir dürfen hier nicht stehenbleiben, nicht hier in
diesem Gebiet. Die Druidin... es ist die Kraft der Druidin, die uns gefangenhält!
Die bösartige Hexe, die nicht will, daß ich meine kranke Mutter noch mal sehe!“
Ihre Stimme überschlug sich.
Larry Brent griff nach ihren Händen. „Was
sagen Sie da?“ fragte er rasch. „Was gibt es hier Besonderes?“
Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen. Ihr
Blick irrte unstet hin und her, und voller Entsetzen riß sie plötzlich ihre
Augen auf. Ein unartikulierter Schrei entrann ihren Lippen.
Sie warf den Kopf herum, als würde ihn eine
unsichtbare Hand herumreißen.
Ein großes Auge öffnete sich in der
Dunkelheit im Geäst des Baumes am Straßenrand.
Und wieder schrie sie auf.
Die dünnen Nervenenden baumelten wie weiße
lange Würmer herab und bekränzten das Einauge, das riesig und lüstern auf ihr
ruhte.
Noch ehe Larry Brent dem Blick der
Kastanienbraunen folgen konnte, riß die Frau ihre Hände aus den seinen, warf
sich gegen die Tür und floh nach draußen.
Sie verlor die Nerven und schien alles um
sich
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