1071 - Die Urnen-Gang
mich an. Ich starrte ebenso zurück und schüttelte dabei leicht den Kopf.
»Jetzt sag nur nicht, daß ich mir das Lied eingebildet habe«, flüsterte mein Freund.
»Nein, das nicht.«
»Okay, John, schauen wir uns die kleine Sängerin mal aus der Nähe an…«
***
Bei der Ankunft hatten wir nicht darauf geachtet, uns lautlos zu bewegen. Das änderte sich nun, denn wir gingen so leise wie möglich. Die beiden Stufen lagen hinter uns, als wir stehenblieben und die Köpfe nach links drehten, da uns der Gesang aus dieser Richtung erreicht hatte. Zu sehen war noch nichts, weil die Büsche einfach zu hoch wuchsen und die Sängerin sich dahinter versteckte.
Sie schien uns ebenfalls nicht bemerkt zu haben, denn sie sang einfach weiter, als wäre überhaupt nichts geschehen. Ich stellte mir in meiner Phantasie ein junges Mädchen vor, das losgezogen war, um wild wachsende Blumen zu pflücken.
Wir kamen näher.
Der Wind trug uns die Gerüche der Gräser entgegen, aber auch weiterhin den Gesang. Wenn uns nicht alles täuschte, dann mußte sich die Person in der Nähe unseres abgestellten Rovers aufhalten.
Plötzlich sahen wir sie.
Aber sie sah uns nicht.
Sie tanzte förmlich aus dem Gebüsch hervor, drehte sich dabei, sang weiter das gleiche Lied und warf die Arme hoch, wobei sie mit der rechten Hand einige Blumen festhielt, die sie gepflückt hatte.
Es war kein Kind mehr, das sahen wir sofort. Ich schätzte sie auf sechzehn oder siebzehn Jahre, und ich mußte lächeln, als ich daran dachte, wie ich sie mir vorhin in meiner Phantasie vorgestellt hatte.
So sah sie auch aus.
Blondes, wunderschönes Haar. Es wippte bei jedem Schritt auf und nieder. Das Kleid erinnerte mich an eine Mode, die vor langen Jahren mal in gewesen war, jedoch durch eine Designerin namens Laura Ashley wieder neue Käufer gefunden hatte.
Das Mädchen trug ein graublaues wadenlanges Kleid mit einem Aufdruck an Streublumen. Klein gehalten, so daß das Kleid mehr einer Sommerwiese glich.
Das Haar war lang. Im Nacken drehte es sich etwas zu einer Außenrolle.
Wir blieben stehen, schauten uns an und konnten nicht begreifen, daß uns so etwas widerfahren war.
Wir hätten mit wesentlich schlimmeren Dingen gerechnet. Dieser Teenager paßte einfach nicht zu einem Fall, bei dem es um verbrannte Menschen ging.
Die Kleine hatte uns noch nicht gesehen, und wir hielten uns auch noch zurück. Beide hingen wir unseren Gedanken nach, ohne einen Erfolg zu erzielen. Mit dem Auftauchen des Mädchens kamen wir einfach nicht zurecht.
»Sag was!« flüsterte Suko.
»Wir werden sie fragen, was sie hier um diese Zeit macht.«
»Blumen pflücken. Einen Strauß binden. Vielleicht für ihre Mutter oder, für ihren Freund.«
»Und das an einem stillgelegten Bahnhof.«
»Was stört dich daran?«
»Ich kann es dir nicht sagen. Obwohl keine Gefahr zu sehen ist, paßt das Auftauchen nicht. Tut mir leid, ich kann nichts dafür. Auf mich wirkt das alles sehr künstlich.«
»Man kann es so sehen.«
Das Mädchen ließ sich nicht stören. Es tanzte weiterhin seine Kreise. Dabei hätte es uns einfach sehen müssen, doch es zeigte durch keine Reaktion an, daß es so war. Und wir erkannten auch nicht, ob es die Augen geschlossen hielt.
»Dann sprechen wir die kleine Tänzerin einfach mal an«, schlug Suko vor.
»Das gleiche wollte ich sagen.«
Wir setzten uns in Bewegung. Auch jetzt gingen wir nicht hastig. Wir wollten die Kleine auf keinen Fall erschrecken.
Recht nahe kamen wir an sie heran. Ich räusperte mich so laut, daß sie es hören mußte.
Sie reagierte nicht und tanzte weiter. Diesmal sang sie ein anderes Lied, das mir unbekannt war. Die Melodie klang allerdings schwermütig und war nicht so lustig und locker wie die erste.
»He, du!« sagte Suko.
Das reichte aus.
Eine Drehung noch, dann reagierte die Tänzerin und blieb so stehen, daß sie uns anschauen konnte.
Ich wußte nicht, wie ich reagiert hätte, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, aber die junge Tänzerin tat zunächst nichts. Sie blieb erst einmal stehen, richtete ihren Blick auf uns, und wir sahen auch keine Angst in ihren grauen Augen. Eher eine gewisse Distanziertheit und auch etwas Mißtrauen.
Es ist immer gut, wenn man lächelte, und das taten wir auch. Es hatte Erfolg, denn die Kleine lächelte zurück.
Ich nickte ihr zu. »Schön, daß wir dich hier treffen. Wir kommen übrigens aus London. Ich heiße John, und neben mir steht mein Kumpel Suko. Wer bist du?«
»Kathy.«
»Ein
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