108 - Der schwarze Würger
Biwaspieler. „Ich sehe, daß du viele Gesichter hast, und das ist gar nicht so seltsam. Ich bin nämlich blind, mußt du wissen. Ich sehe von den Menschen nur, was sie einmal gewesen sind, oder was sie einst werden. Manche Menschen haben nur ein Gesicht, das Augenblick-Gesicht. Das zeigt mir, daß sie nie eine Wiedergeburt erfahren haben und auch nie eine erfahren werden. Du dagegen hast schon einige Male gelebt."
Der Alte hatte mich überzeugt. Er war kein Schwindler. Ich war sicher, daß er mit seinen blinden Augen ins Jenseits blicken konnte.
„Verstehst du auch mit den Toten umzugehen?" fragte ich ihn.
„Die Toten mögen mein Biwaspiel, und sie hören es gern, wenn ich ihre vergangenen Leben besinge", antwortete der Alte. „Ich habe mich hier an diesem vergessenen Friedhof niedergelassen, um die ruhelosen Krieger zu besänftigen."
„Und wie heißt du?"
„Mein Name ist Genji."
„Du hast uns gerettet, Genji", sagte ich. „Aus Dank dafür darfst du mit uns kommen. Kaoru, laß den Musikanten bei dir aufsitzen! Behandle ihn gut, denn ich hoffe, daß er noch oft für uns spielt und uns die Toten vom Leibe hält. Du mußt nämlich eines wissen, Genji. Jeder von uns hat schon viele Menschen ins Jenseits befördert. Und deshalb haben wir die Rache der Toten zu fürchten."
„Du hast nichts zu befürchten", sagte der Alte zu mir, nachdem er bei Kaoru aufgesessen war, „denn für dich wäre der Tod eine Erlösung,"
Wie deutlich er das erkannt hatte. Er war nicht nur ein Seher, sondern auch ein Weiser, dieser blinde Biwaspieler.
Der erste Schnee war gefallen. Mit mir ritten fünfzehn Männer, die nichts auf dieser Welt oder aus den jenseitigen Welten fürchteten. Wir hatten einige Berge hinter uns gelassen und bereiteten uns vor, eine gewaltige Gebirgskette zu besteigen.
Hier war es, wo ich vor die Entscheidung gestellt wurde: Kito töten oder nicht.
Er war ein von Wind und Wetter geformter Geselle. Seine wie gegerbt wirkende Haut hatte die Farbe seines eisengrauen Bartes. Er war nicht groß, auch nicht muskulös, sondern bloß sehnig. Aber jede seiner Bewegungen wirkte kraftvoll, und ich dachte unwillkürlich, daß er aussah, als sei er aus einem unglaublich biegsamen Stahl geschmiedet.
Er war nur mit einem Holzstock bewaffnet. Daß wir in der Überzahl waren, beeindruckte ihn nicht. Er stellte sich uns auf dem schmalen Pfad, den wir einzeln passieren mußten, furchtlos entgegen.
Ich war der dritte in der Reihe. Die beiden Reiter vor mir erledigte er mühelos. Beine Male ging er auf die gleiche Art vor: Er ließ den Reiter heran, wich der Klinge geschickt aus oder duckte sich unter ihr hindurch, setzte dann seinen Stock zwischen den Beinen des Pferdes an, stemmte es mitsamt dem Reiter in die Höhe und schleuderte beide in die Schlucht.
„Warum schließt du dich uns nicht an?" fragte ich ihn, weil er mir zu schade zum Töten war.
Einen Kämpfer wie diesen konnte ich jederzeit gut gebrauchen.
„Weil mich keiner darum gebeten hat-, sagte er schlicht.
„Auch ich bitte dich nicht", sagte ich. Seine Überheblichkeit machte mich zornig. „Ich biete dir nur an, für mich zu kämpfen oder für nichts zu sterben."
Er überlegte sich seine Antwort gut und starrte, während er nachdachte, immerfort den Kopf an, der von meinem linken Ärmel baumelte.
„Warum schmückst du dich mit dieser Trophäe?" fragte er schließlich.
„Es ist der Kopf eines Rokuro-Kubi", antwortete ich. „Ich bekomme ihn nicht mehr los."
„Darf ich es versuchen?" fragte er. „Wenn ich den Kopf abschlagen kann, dann ist erwiesen, daß es sich nicht um den Kopf eines Rokuro-Kubi handeln kann. Hast du aber die Wahrheit gesprochen, dann bin ich dein Diener."
Allein dafür, daß er mich einer Lüge für fähig hielt, hätte ich ihm das Leben nehmen können. Aber ich tat es nicht.
Ich streckte den linken Arm seitlich aus, so daß der Kopf des Rokuro-Kubi tief herabhing. Die starren Augen der häßlichen Fratze waren dabei auf den Eisernen gerichtet. Dieser packte seinen Stock mit beiden Händen, holte kurz aus und schlug mit unheimlicher Wucht gegen den Schädel, der sich jedoch um keinen Fingerbreit rührte. Dafür barst der Stock in tausend Splitter.
Der Eiserne verneigte sich vor mir und sagte: „Ich heiße Kito und bin dir auf Gedeih und Verderben verpflichtet."
Meine Wut war verraucht.
„Kennst du eine Amme, die hier irgendwo leben muß?" fragte ich ihn. „Ich weiß von diesem Weib nur, daß sie manchmal von einem
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