1080 - Hexenwald
Menschen, was sie brauchte.
Oft merkten die nicht einmal, daß sie bestohlen worden waren. Hier und da ein Kleidungsstück für den kalten Winter. Auch mal was zu essen und zu trinken. Immer nur in Maßen, damit es nicht auffiel.
Aber die Menschen wußten auch, daß mit dem Wald etwas nichts stimmte. Für sie war er nicht normal, denn sie fürchteten sich davor, ihn zu betreten. Selbst der Förster durchging ihn nie. Er blieb mehr an den Rändern, und das war bisher sein Glück gewesen. So hatte er das wahre Geheimnis noch nicht kennengelernt.
Anena hätte zufrieden sein können. Daß sie es nicht war, beunruhigte sie. Sie war in der langen Zeit hier in ihrem Versteck nicht zu einem Tier geworden, aber das Leben in der Natur hatte ihre Sinne geschärft, sogar für Dinge, die nicht unbedingt mit den normalen Augen zu sehen waren und mehr im metaphysischen Bereich lagen.
Die Frau spürte, daß sich ihrem Refugium etwas näherte. Sie konnte sich nicht mehr in der großen Sicherheit wiegen. Etwas war im Begriff ihr Gebiet zu entweihen.
Nein, nicht etwas, sondern jemand!
Plötzlich stand sie auf. Ein Schauer rann über ihren nackten Körper hinweg. Schnell verließ sie ihre Behausung und blieb vor dem Eingang stehen wie jemand, der lauschen wollte, ob sich nicht irgendwo etwas tat.
Noch blieb alles ruhig. Der Wald um sie herum schwieg. Er gab nichts preis. Er war zu einem einzigen großen Geheimnis geworden, das nichts nach außen dringen ließ.
Anena wußte nicht, was sie tun sollte. Es kam nicht oft vor, daß sie Unsicherheit zeigte, in diesem Fall war es so. Und es trat eigentlich nur dann ein, wenn sie den Hauch eines Feindes spürte. So wie jetzt. Sie glaubte daran, daß es tatsächlich jemand gewagt hatte, den Wald zu betreten. Einer, der entweder völlig naiv war oder genau wußte, was er da tat.
Gefallen konnte ihr das nicht. Aber sie gehörte auch nicht zu den Menschen, die sich zurückzogen und einfach nur abwarteten. Sie mußte etwas unternehmen. Außerdem konnte sie sich auf eine gute Rückendeckung verlassen.
Zu sehen war nichts. Das milchiggrüne Zwielicht verschluckte jede Bewegung. Den leichten Wind spürte sie ebenfalls, der zart über ihre nackte Haut strich.
Vor ihr lag die etwas hellere Welt. Und sie war sicher, daß sie den Grund für ihre Unruhe dort finden würde. Zwei, drei Schritte mußte sie zur Seite gehen, um den Gegenstand zu erreichen, der ihr so wichtig war. Die Kette lag wie eine dicke, bräunliche Schlange auf dem Boden. Anena lächelte, als sie das schwere Ding hochnahm. Es würde ihr sehr gute Dienste erweisen, das stand fest. Denn wenn es eine Waffe gab, mit der sie perfekt umgehen konnte, dann war es die Kette.
Mit ihr machte sie sich auf den Weg…
***
Harry war zwar nach dem Gespräch mit Jens Küppers nicht viel schlauer geworden, aber er kannte jetzt die alte Sage, die sich um das Waldstück drehte, und er war kein Ignorant, der darüber gelächelt hätte, denn oft genug hatte ihm das Leben bewiesen, wie gewisse Dinge liefen und zusammenhingen.
Er wollte auch nicht länger warten. Es war besser, wenn er ein Problem direkt anging.
Daß er nicht bis zum Wald fahren konnte, war ihm klar. Zudem war die Brücke noch immer nicht repariert worden, und so mußte er einen Umweg fahren. Dieser Bogen führte ihn über schmale Straßen der leicht hügeligen Gegend mit ihren verstreut liegenden Dörfern, den einsamen Gehöften, und unter einem Himmel her, dessen Blau von kaum einer Wolke getrübt wurde.
Es war ein Bilderbuchtag, wie man ihn zum Glück noch immer erlebte. Der Herbst hatte den schlechten Sommer abgelöst, und wer sich den Himmel anschaute, der konnte sich kaum vorstellen, daß aus ihm die gewaltigen Regenmassen gestürzt waren.
Auch der Bach war wieder zurück in das Bett geflossen. Oft diente er als Grenze der verschiedenen Felder. Auf ihnen waren die Spuren der Überschwemmungen noch zu sehen, denn dort hatten sich neue Teiche gebildet, die erst allmählich verschwinden würden.
Er fuhr langsam weiter. Das Gebiet, auf das es ihm ankam, lag an der linken Seite, und Harry suchte nach einer Möglichkeit, so nahe wie möglich heranzufahren.
Von der normalen Straße mußte er abbiegen. Der glatte Belag verschwand unter den Reifen. Statt dessen fuhr er über einen Feldweg, der praktisch durch die Reifenspuren eines Treckers entstanden war. Rechts und links ausgefahrene Rinnen. In der Mitte ein langer, mit Gras und Unkraut bewachsener Streifen.
Auch hier war der
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