1080 - Hexenwald
Boden noch feucht, und der Pfad war auch sehr bald verschwunden, weil das dichte Grün ihn überwucherte, so daß sich Harry nur mühsam fortbewegen konnte.
Er war in die Einsamkeit hineingefahren, und so fühlte er sich auch. Verlassen, völlig auf sich gestellt, denn das Dorf mit seinen Bewohnern lag weit hinter ihm zurück. Aus dieser Richtung konnte er auch keine Hilfe erwarten. Wenn er das Rätsel lösen wollte, dann allein. Helfen würde ihm keiner.
Er kam auch nur mühsam weiter. Das Gras verdeckte zwar die Feuchtigkeit, aber sie war zu spüren.
Oft genug befürchtete er, daß sich die Reifen in dem feuchten Boden festfuhren und er nicht mehr von der Stelle kam. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu stoppen. Das passierte dicht neben einer Buschgruppe, deren Zweige schon zuvor über die Karosserie an der Fahrerseite gekratzt waren.
Harry stieg aus.
Neben seinem Opel blieb er zunächst stehen und schaute sich um. Der Wald war näher an ihn herangerückt. Er brauchte nur noch ein mit hohem Gras und wildem Buschwerk bewachsenes Wiesenstück zu überqueren, um ihn zu erreichen.
Die Warnungen hatte er nicht vergessen, und schon nach wenigen Schritten war er froh, sich anständiges Schuhwerk gekauft zu haben, denn er sank beim Auftreten bis zu den Knöcheln ein. Jetzt taten ihm die Stiefel wirklich gut.
Es war warm geworden. Die Sonne wollte zeigen, daß sie noch Kraft besaß. Das gefiel auch den Insekten. Fliegen, Schmetterlinge, auch Wespen tanzten über dem Boden und flogen manch bunte und wildwachsende Herbstblume an, um sich daran zu laben.
Aber die Sonne hatte es nicht geschafft, die gesamte Feuchtigkeit wegzudampfen. Am Waldrand hing sie noch fest wie ein helles Gespinst, das sich im Unterholz verfangen hatte.
Das war eine andere Welt. Kein Sonnenschein, nur hohe Bäume und feuchter Boden. Hinzu kamen die Lichtverhältnisse. Die Sonne hatte es schwer, sich in dieser Welt durchzusetzen. Harry glaubte, daß ihre Strahlen nicht einmal den Boden erreichten.
Unverdrossen ging er auf dem direkten Weg dem Waldrand entgegen. Er hörte das Summen der Insekten, das ihn ebensowenig beruhigen konnte wie die bunten Schmetterlinge, die mit taumeligen Flügen durch diese herbstliche Welt irrten.
Harry Stahl fühlte sich wie jemand, der auf einer bestimmten Trennlinie hermarschiert. Auf der einen Seite die helle, freundliche Welt, auf der anderen die düstere, die alle Geheimnisse für sich behielt. Dieses Waldstück konnte keinem Menschen Freude bereiten. Da lud nichts zum Verweilen oder zum Spazierengehen ein. Wer die Geschichten kannte, die sich um das Gebiet rankten, der ging erst recht nicht hin. Auch der Pfad hatte mitten im Gelände aufgehört.
Je mehr sich Harry seinem Ziel näherte, um so feuchter und schwerer wurde der Boden. Er mußte jetzt stark achtgeben, nicht plötzlich in einen Tümpel zu treten und einzusinken, denn einige hatte er schon gesehen. Sie lagen auf der Wiese wie glänzende Augen verteilt. Da so gut wie kein Wind wehte, bewegten sich auch die Oberflächen nicht.
Der Wald atmete aus.
Harry war davon überzeugt, denn ihm wurde ein Geruch geschickt, der einfach anders war. Feuchter und fauler. Alt und auch irgendwie abweisend, als wollte er den Ankommenden davor warnen, die letzten Meter zurückzulegen.
Der Geruch drang von allen Seiten her. Nicht nur von vorn, Harry spürte ihn auch von der Seite, und selbst aus dem Boden wehte die alte und muffige Luft zu ihm hoch.
Es roch nicht nach Blüten oder Blumen, auch nicht nach Gras, es war einfach nur alt, und das Sonnenlicht konnte auch nichts daran ändern. Überall sah er jetzt Wasser. Die Pfützen hatten sich vermehrt, und er platschte hindurch, ohne einzusinken, was er schon als einen Erfolg ansah.
Die ersten Farne umstrichen seine Beine. In seiner Nähe wuchsen auch Schilfrohre hoch, die einen kleinen Tümpel umgaben. Noch immer war der Wald für ihn ein fremdes Terrain, auch wenn Harry jetzt Lücken sah, die ihm einen Blick ins Innere erlaubten.
Er blieb stehen.
Einer wie er war es gewohnt, sich zu orientieren. Er wollte den Feind zunächst genau erkunden, bevor er ihn bekämpfte. Der Wald war ein Feind. Selbst aus der Nähe gelang ihm kein tiefer Blick hinein. Er selbst schien etwas versteckt zu haben, was das Auge eines Fremden nicht sehen und entdecken sollte.
Harry Stahl sah nichts. Keine Bewegung, die ihn irritiert hätte. Die Vögel akzeptierte er, aber das war auch alles. Menschen sah er nicht, damit hatte er auch
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