1080 - Hexenwald
er dann auch in einen leichten Schwindel.
Sein Blick fiel nach vorn durch die Öffnung in den Wald hinein. Er fröstelte. Die Luft war kühl und noch feuchter geworden, denn durch den Wald zogen die morgendlichen Frühherbstnebel. Weiße Gespenster, die sich auch bis zum Abend hin nie völlig auflösten.
Der Gefangene erlebte hier eine völlig andere Morgendämmerung. Der Vorhang der Nacht wurde nicht ganz zur Seite gezogen. Ein wenig blieb immer. Aber er war dabei, eine andere Farbe anzunehmen. Mochte das Licht der ersten Sonne auch noch so hell sein. Es schaffte es nicht, die grüne Farbe völlig zu vertreiben.
So blieb diese Welt immer gläsern und auch nie richtig klar. Noch immer hatte Harry Schwierigkeiten, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Doch es war Realität. Der Wald, die alten Bäume, der faulige Geruch des Brackwassers, die Tiere, die Insekten, die ihn zusätzlich geplagt hatten und sich an seinem Blut erfreuten. Die Feuchtigkeit. Das Gluckern und Klatschen, wenn etwas in das Wasser hineinfiel, das noch nicht in den Boden gesickert war. Trockene Stellen gab es überhaupt nicht.
Alles war nur feucht, und die Luft selbst schien schwer zwischen den Bäumen zu hängen.
Anena war gegangen. Harry Stahl wußte nicht, wann sie zurückkehrte. Sie sprach nie mit ihm darüber. Sie blieb immer unterschiedlich lange weg, und Harry nahm sich vor, die Zeit zu nutzen. Er wollte die primitive Hütte so weit wie möglich verlassen und noch einmal versuchen, die verdammte Kette zu lösen. An seinem Fuß bekam er die Spange nicht auf. Den Schlüssel für das Schloß hatte Anena mitgenommen.
Harry stand auf. Den leichten Schwindel mußte er zunächst ausgleichen, bevor er gebückt die ersten Schritte setzte und dann aus der Hütte trat.
Diese Umgebung hier war so dicht bewachsen, daß es kein Sonnenstrahl schaffte, sie zu erreichen.
Das Licht blieb über ihm in den Bäumen hängen, so waren der Boden und auch die Seiten nicht mehr als eine dunkle Fläche. Er ging schwerfällig nach rechts. Die Kette schleifte über den Boden.
Den Stiefel trug er nur links, und schon nach dem ersten Auftreten war der andere Fuß naßgeworden.
Nicht weit entfernt ragte der Pflock aus der Erde. Es war eigentlich ein Baumstumpf, ungefähr hüfthoch, um den Anena die Kette geschlungen hatte. Die Glieder umgaben ihn dermaßen eng, daß sie an der feuchten Rinde zu kleben schienen, und sie ließen sich auch nicht bewegen. Harry bemühte sich, er schaffte es nicht, sie nach oben zu streifen. Wie Krallen hatten sich die einzelnen Glieder in die Rinde eingegraben und waren an einer Stelle ineinander verhakt. Mit der Hilfe eines anderen Menschen hätte er es möglicherweise geschafft. Allein war Harry zu schwach, und er gab auch nach dem dritten Versuch auf. Dann taumelte er zur Seite und setzte sich auf den Baumstumpf.
Trauer und die Wut über sein Versagen und seine Unfähigkeit gaben ihm das Gefühl, zu nichts mehr nütze zu sein. Es war einfach grauenhaft, unvorstellbar. Er hockte hier in dieser Welt als ein Gefangener, wie jemand auf einer Insel. Aus eigener Kraft konnte er sich nicht befreien, und er wußte auch, daß diese verfluchte Hexe etwas mit ihm vorhatte.
Wieder dachte er an den Toten…
Ob der Mann vor seinem Ende auch hier so gehaust hatte wie er? Vorstellbar war es für Harry schon. Dann aber mußte etwas passiert sein, für das er auch jetzt keine Erklärung fand. Der Tote war angefressen worden. Nicht von einem Tier, sondern von der Natur selbst. Vom Wald, von der Umwelt, und da durchzuckte eine bestimmte Idee Harrys Kopf.. Er war nicht der Fachmann wie John Sinclair, aber er hatte inzwischen einiges gelernt und kannte auch Namen.
Wie Mandragoro!
Ein Urwald-Dämon. Einer, der nicht wollte, daß die Menschen ihre und auch seine Welt zerstörten.
Er ging rigoros vor. Er kannte keine Rücksicht. Feinde wurden nach seinen Methoden vernichtet. Da konnte sich Harry vorstellen, daß der Tote ein Opfer des Umwelt-Dämons geworden war. Und daß Anena mit ihm zusammenarbeitete.
Es war eine Welt für Mandragoro, der sich oft genug versteckt hielt. Er schaffte es, überall zu sein.
Es gab keine Grenzen. Er war selbst ein Stück Natur und ein wenig Mensch. Zumindest zeigte er sich den Menschen so, denn sie brauchten immer ein Gesicht oder ähnliches. Das hatte Mandragoro aufzuweisen.
Zwar hatte Harry ihn noch nie gesehen, aber John Sinclair hatte ihm davon berichtet. Und genau dieser John Sinclair war nicht unbedingt ein
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