1081 - Die Mutprobe
Mike schaute nicht hin, als ich es hervorzog. Er sah es dann, denn ich hielt es ihm praktisch vors Gesicht, und so konnte er nicht ausweichen.
Sein Mund öffnete sich. Ich rechnete mit einem Schrei. Der allerdings blieb aus. Sein Mund stand einfach nur offen. Ebenso die Augen. Der Anblick des Kreuzes hatte ihn gebannt. Wenn er unter der Kontrolle des Pretorius stand, würde es schwer für ihn werden, der Aura zu entgehen. Da konnte er den Anblick kaum ertragen, der genau das Gegenteil dessen ausstrahlte, für das er stand.
Sein Gesicht verzog sich. Er duckte sich. Dann ging er zurück. Er schüttelte den Kopf. Eine Geste, die bedeutete, daß ich das Kreuz zur Seite nehmen sollte. Das tat ich nicht. Ich ging ihm nach und verkürzte sogar die Distanz.
Suko hielt ihn auf. Mike hatte mittlerweile die Tür erreicht. Dem Gegendruck setzte er nichts mehr entgegen. Aber er schüttelte den Kopf wie jemand, der alles anders haben wollte. Er drehte sich plötzlich nach rechts, riß die Hände hoch, um sein Gesicht zu schützen und stieß einen brüllenden Schrei aus.
Selbst Suko konnte ihn nicht halten. Die Wucht, mit der er angesprungen wurde, katapultierte ihn in den Flur hinein. So hatte Warner plötzlich freie Bahn.
Er hätte es sicherlich bis nach draußen geschafft, wäre da nicht Milena Kovac gewesen, die blitzschnell ein Bein zur Seite hin streckte und es zwischen die Füße des Flüchtenden stellte.
Warner fiel nach vorn. Er prallte mit seinem Körper gegen die Haustür, doch er schaffte es nicht, sie aufzureißen und zu fliehen. Zudem war er mit dem Kopf dagegen gefallen und rutschte nun langsam zu Boden. Er war nicht bewußtlos, doch der Stoß hatte ihn groggy gemacht. Wie ein Häufchen Elend lag er neben der Tür.
Suko war vor mir da. Er hob ihn an. Milena Kovac flüsterte. Niemand verstand ihre Worte, aber von Mike Warner drohte uns zunächst keine Gefahr mehr.
Er selbst hatte sich schlaff gemacht. Er spielte den Ausgeknockten. Er war nicht mehr in der Lage, zu reagieren. Sein Gesicht hatte auch einen anderen und befremdlichen Ausdruck erhalten. Es sah bleich aus und wirkte wie bemalt, denn auf der Haut zeichneten sich dunkle Flecken ab. Wie bei einem Menschen, der eine ansteckende Krankheit bekommen hatte.
»Was ist mit ihm, Mr. Sinclair?«
»Ich hoffe, Sie glauben mir, Milena, daß wir ihn wieder befreit haben.«
»Sie meinen von Pretorius?«
»Sicher. Er hat sich zurückgezogen.«
Milena Kovac deutete auf mein Kreuz, das ich noch immer festhielt. »Damit?«
»Sicher.«
»Ich möchte nicht fragen, was das Besondere daran ist, aber ich habe sehr gut zugehört. Ich weiß, daß der Friedhof jetzt wichtig ist. Wenn wir Pretorius finden wollen, egal, ob tot oder irgendwie lebendig, sollten wir hinfahren.«
»Das genau hatte ich vorschlagen wollen.«
»Und was machen wir mit Mike? Kann man ihn mitnehmen?«
»Wir müssen, Milena. Es wäre zu gefährlich, ihn außer Kontrolle zu lassen. Wir werden ihn mitnehmen, doch er wird Handschellen bekommen. Wir müssen sicher sein, daß er nicht versucht, sich an Pretorius zu hängen oder zu fliehen.«
»Ja, das ist gut.« Milena nickte, bevor sie sich bückte. Sie half Warner auf die Beine zu kommen. Er wollte nicht so recht und schaute auch nur zu Boden.
Die Hände fesselte ich ihm auf dem Rücken. Es war besser so. Wenn er während der Fahrt durchdrehte, konnte er uns in große Schwierigkeiten bringen.
»Sie kennen den Friedhof?« erkundigte sich Suko.
»Ja, ich weiß Bescheid. Mit dem Auto ist es nicht weit. Aber denken Sie nicht, daß wir es mit einem normalen Friedhof zu tun haben. Der hier ist anders. Da wird keiner mehr begraben. Zuletzt wurden während des Zweiten Weltkriegs und kurz danach Kriegsverbrecher und Gefangene verscharrt. Aber auch normale Mörder und Schänder. Das war schon seit altersher so. Den genauen Grund weiß ich nicht. Es muß früher einmal etwas passiert sein.«
»Gibt es keine Gerüchte?«
»Doch, Suko, die gibt es. Man spricht von einem Teufelsdiener, Hexenjäger und Brandstifter, der dort liegt.«
»Also dieser Pretorius.«
»Sie sagen es.«
Suko wandte sich an mich. »Können wir los?«
»Meinetwegen ja.«
***
Ruben Moreno stoppte den Fiat Punto so, daß er und Mandy Mannox die Mauer des Friedhofs in der Dunkelheit sahen. Sie war auch nicht zu übersehen, denn der Friedhof besaß ein altes Tor aus Stein, das aussah wie das Dach einer Kirche. Im Laufe der Zeit war nicht mehr viel von ihm zurückgeblieben, doch die
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