1081 - Die Mutprobe
hoch, krochen auch darüber hinweg und erreichten den Friedhof, auf dem sie sich verteilten.
Eine perfekte Gruselstimmung, die dafür sorgte, daß eine derartige Mutprobe noch spannender und unheimlicher wurde. Selbst Moreno sagte nichts und ließ die Umgebung auf sich wirken.
Mandy schaute zum steinernen Bogentor hin, wie jemand, der nach etwas Bestimmten suchte. Da war nichts, obwohl die sacht treibenden Schwaden etwas vorgaukelten. Manche Fahnen sahen aus wie große Gestalten, die in die Länge gezogen worden waren, aber stumm blieben und ihnen nichts entgegenflüsterten.
»Frierst du?« fragte Ruben.
»Wieso?«
»Weil du zitterst.«
»Mir ist kühl.«
»Laß uns gehen, dann wird dir warm.«
»Tu doch nicht so cool.«
Moreno grinste. »Da brauche ich nichts zu tun. Ich bin eben abgebrüht. Mir macht das Ding hier keine angst. Aber unserem Freund traue ich nicht. Der kann uns viel erzählen…«
»Warte doch mal ab, bis wir am Grab sind, verdammt!«
»Ja, schon gut. Reg dich ab.«
Sie gingen. Ruben hatte die Führung übernommen, während sich Mandy dicht hinter ihm hielt. Sie wußte nicht, ob die Lockerheit ihres Begleiters gespielt war. Aber Typen wie Moreno wollten eigentlich immer siegen. Sie sahen sich stets an der Spitze. Sie räumten alles aus dem Weg, was sich ihnen entgegenstellte und brauchten die große Aktion.
Vor dem Bogentor blieb er stehen und drehte sich um. So plötzlich, daß Mandy beinahe gegen ihn gelaufen wäre.
»He, was ist denn?«
»Ruhig, Mandy, ganz ruhig. Denk doch daran, was wir ausgemacht haben. Du bist an der Reihe.«
»Was meinst du?« Ihr Herz klopfte schneller. Sie wußte, was kam, denn diesen Streich hatten sie sich gemeinsam ausgedacht. In den letzten Minuten hatte Mandy gehofft, daß sich Ruben nicht mehr daran erinnerte. Er tat es, und er grinste sie dabei an.
»Zieh dich aus!«
Mandy wollte nicht. »Verdammt, es ist mir zu kalt.«
»Das war abgesprochen.«
»Ja, ich weiß. Aber…«
»Nein, nein, kein aber. Du selbst hast den Vorschlag gemacht, wenn ich mich recht erinnere. Jetzt will ich, daß du hier als Totenfee über den Friedhof läufst.« Er kicherte. »Das Gesicht möchte ich sehen, wenn er plötzlich eine Leiche sieht, die im Totenhemd daherwandelt.«
Mandy wußte, daß es keinen Sinn hatte, noch länger zu warten. Umzuziehen brauchte sie sich nicht.
Sie hatte das blaßweiße und mit einem gelblichen Schimmern versehene lange Kleid in die Höhe geschoben und es unter ihrer Kleidung verborgen.
Sie stieg aus den Lederklamotten und ließ sie auf der Erde neben der rechten Säule liegen.
Ruben schaute ihr grinsend zu. »Das wird echt der große Fun, das sage ich dir.«
Mandy schwieg. Mit beiden Händen streifte sie den langen Kleiderrock nach unten und strich ihn noch glatt. Es war ein alter Stoff. An den Ärmeln gerafft und auch unterhalb des viereckigen Ausschnitts, aus dem die Ansätze der nicht unbeträchtlichen Brüste hervorquollen. Dieses Kleid trug man heute nicht mehr. Es war noch ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert oder aus den Anfängen des laufenden. Ein Erbstück, mit dem Mandy schon öfter auf Partys und Festen aufgefallen war.
Hier in der Dunkelheit wirkte es noch blasser als sonst. Hinzu kamen die blonden Haare und die ebenfalls blasse Haut.
»Stark siehst du aus.«
»Ich friere.«
»Das gibt sich wieder.«
»Du kannst dich doch bis auf die Unterhose ausziehen.«
»Nein, laß mal. Schwarz und weiß, das paßt gut zusammen. Wir müssen uns nur noch absprechen, wie wir es machen. Ich will unbedingt Mikes Gesicht sehen, wenn er dich entdeckt.«
»Und dann?«
»Komme ich und lache. Wir hätten eine Kamera mitnehmen sollen. Aber eine so gute habe ich nicht.«
Mandy gab keine Antwort. Ihr paßte so einiges nicht, aber sie wollte auch nicht kneifen und machte sogar den Anfang. Sie war die erste, die den Friedhof betrat.
Ihr kam es vor, als wäre sie von der Helligkeit ins Dunkle geschritten. Nicht, daß es auf dem Gelände heller gewesen wäre, es hing einfach mit ihrem seelischen Zustand zusammen. Diese Welt hier war ihr völlig unbekannt.
Den Friedhof hatten sie sich bei Tageslicht angesehen und ihn genau inspiziert. So wußten sie auch, wie sie sich zu bewegen hatten. Verlaufen konnten sie sich nicht. Aber sie waren vorsichtig und auch langsam, denn sie wollten nicht zu früh gesehen werden, und so nahmen sie einen Umweg in Kauf.
Lautlos gingen sie nicht. Die Schritte waren schon zu hören. Mal ein leises Knistern, mal
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