1087 - Blutjagd
mit einer hohen Energie lief.
Ihr Abteil war leer. Der Herzschlag beruhigte sich wieder, denn sie hatte damit gerechnet, daß der Vampir auf sie lauerte. Die Tür zog Estelle nicht ganz hinter sich zu, als sie den schmalen Raum mit kleinen Schritten betrat. Sie konnte nicht behaupten, daß sich Leben in ihren Augen befand, und auch innerlich fühlte sie sich zerrissen, aber die andere Kraft ließ sie einfach nicht los. Estelle wußte auch, daß sie nicht in der Lage war, sie zu lenken. Es war umgekehrt der Fall.
Langsam ging sie auf das Fenster zu. Das hatte sie eigentlich nicht vorgehabt. Nun kam es ihr vor, als wären die Beine dabei, sich von allein zu bewegen.
Die normale Welt war für Estelle Crighton nicht mehr existent. Sie sah nur die andere, die neue, und die blieb auf den Ausschnitt des Fensters begrenzt.
Auch wenn sie gewollt hätte, es wäre ihr jetzt unmöglich gewesen, den Blick abzuwenden. Das Viereck mit den abgerundeten Kanten zog sie an wie ein Magnet.
Kinder näherten sich so zum erstenmal der Glotze, und auch Estelle war erstaunt.
Ja, da schwebte ihr Gesicht. Sie sah es im Viereck abgebildet. Aber sie erlebte auch, wie sich das Gesicht in die Breite zog. Diesmal nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte. Dort erhielt es ein völlig neues Aussehen.
Oder doch nicht?
War es möglicherweise anders? Konnte es sein, daß sich, von wo auch immer, ein zweites Gesicht näherschob und sich dabei über das erste legte? Estelle war in diesen Augenblicken des Erkennens oder Erwachens völlig durcheinander. Während sich das zweite Gesicht immer deutlicher zeigte, wurde sie der Gegenwart irgendwie entrissen und tauchte ein in die alten Erinnerungen der Kindheit.
Sie sah sich als kleines Mädchen. Sie sah den Teich. Sie sah das darauf schimmernde Eis. Die anderen Kinder hielten sich am Ufer auf. Einige von ihnen schlitterten auch am Rand der Fläche. Nur sie war es, die sich weit auf den Teich hinauswagte.
Dann brach das Eis.
Das Knirschen hörte sie so laut und überdeutlich, daß sie einfach aufschrie. Alles war wieder so nah, und sie zog ihren Körper zusammen, als sie die Kälte des eisigen Wassers spürte, die sie wie ein dicker Reif umgab.
Sie jammerte. Die Angst, die sie damals gespürt hatte, kehrte zurück. Aber es passierte noch mehr.
Sie atmete wie jemand, der unter Asthma leidet. So intensiv erlebte sie den Vorgang, daß sich sogar Tränen in ihren Augen bildeten.
Das Gesicht blieb. Die Scheibe zeigte es sehr deutlich. Inzwischen so klar, daß Estelle ihren Zustand vergaß und sich nur auf das Gesicht konzentrierte.
Es war so wenig fest. Es besaß Umrisse, aber die schienen nur angedeutet zu sein. Die hohe Stirn, an deren Seiten das halblange Haar nach unten lief. Das feingeschnittene Gesicht mit dem breiten Mund, dessen volle Lippen sich zu einem Lächeln verzogen - und natürlich die Augen.
Sie waren so anders. Kaum zu beschreiben. Tot und trotzdem voller Wärme und Licht, das allerdings nicht mit dem irdischen Licht zu vergleichen war.
Estelle erinnerte sich wieder so überdeutlich daran, was passiert war, als sie die Augen zum erstenmal gesehen hatte. Sie war aus dem Wasser gezogen worden, und ihr Lebensretter hatte sich dabei tief über sie gebeugt. Genau da hatte sie in die Augen des Wesens geschaut und den gleichen Ausdruck erlebt.
Also malte ER sich in der Scheibe ab. Ihr Retter. Ihr Schutzengel. Die Sorgen verschwanden. Auf das Gesicht des Mannequins legte sich ein Strahlen. Es verjüngte sich sogar, so daß sie aussah wie ein Kind, das sich über ein besonderes und nicht erwartetes Geburtstagsgeschenk freute.
Augen, die nicht nur sehen und erkennen, sondern auch sprechen konnten.
Da war eine wispernde Stimme in der Nähe, die sie umflorte wie ein Luftzug. »Bitte, kleine Estelle, du bist erwachsen geworden. Ich kann dich nicht immer beschützen. Versuche, normal durchs Leben zu gehen. Bleib auf deinem Weg, aber hüte dich vor der großen Gefahr. Ich habe dir einen Teil meines Atems eingehaucht, doch du darfst nicht denken, daß ich dich unsterblich gemacht habe. Das ist niemand, außer dem, der ewig war und ewig sein wird…«
Sie nickte.
Aber sie sah es nicht in der Scheibe, denn sie war von der anderen Gestalt übernommen worden.
»Du mußt versuchen, die Nacht zu überstehen, kleine Freundin. Aber es wird sehr schwer werden, darauf kannst du dich verlassen. Du bist nicht allein, daran solltest du denken, aber du darfst dein Schicksal auch nicht zu stark
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