1087 - Blutjagd
über ihr, denn das Gelände stieg noch immer leicht an. Er hielt den Kopf gesenkt. Sein Blick war auf Estelle gerichtet, die vor seinen Füßen lag.
Um sie herum lauerte die Dunkelheit. Dicht und kaum zu durchdringen. Trotzdem sah sie etwas.
Der Vampir schien von innen her zu leuchten, denn er verschmolz nicht mit der Umgebung und zeichnete sich sogar noch deutlich ab.
Es war nicht nur die zur Klaue gewordene Hand, die sie störte, da gab es noch etwas anderes. Es ging um sein Gesicht, in dem sich etwas verändert hatte.
Die Augen, die bei der ersten Begegnung so faszinierend auf Estelle gewirkt hatten, waren nicht mehr so wie sie sie in Erinnerung hatte. Das Dunkel und Geheimnisvolle hatte sich zurückgezogen und einer anderen Farbe Platz geschaffen. Aus den Tiefen der Pupillenschächte war ein dunkles Grün in die Höhe gestiegen und hatte sich - vermischt mit schwarzen Punkten - innerhalb der Pupillen verteilt, die jetzt gefleckt aussahen wie das Fell eines Tigers.
Die Zähne waren ebenfalls zu sehen. Sie machten ihr weniger Angst als die Veränderung der Augen. Estelle wußte, daß Augen und Hände die Seele eines Menschen widerspiegeln konnten. Wenn das stimmte und wenn Vampire auch eine Seele besaßen, dann sah sie jetzt deren Zerrissenheit in den Augen.
Seinen linken Arm hielt er gegen den Körper gepreßt. Den rechten nicht. Er wies auf Estelle und damit auch die Klaue, die immer krummer, starrer und schuppiger geworden war, wobei sich die Finger gekrümmt hatten, und die Nägel um mindestens das Doppelte angewachsen waren. Diese Klaue konnte auch in menschliche Körper hacken, und darauf wartete sie wahrscheinlich.
Der Odem des Engels hatte sie gegen den tödlichen Biß beschützt. Aber er würde machtlos sein, wenn die Klaue zuschlug und sie brutal ermordete.
Dann hörte Estelle ihn scharf lachen, und erst danach sprach er sie an. »Du hast gedacht, mir zu entkommen, weil du stark gemacht worden bist. Das ist ein Irrtum. Wen ich mir einmal als Opfer ausgesucht habe, den lasse ich nicht weg. Ich werde dich bekommen, aber ich bekomme dich anders, als du es dir vorgestellt hast. Ich werde dir zeigen, daß ich jemand Besonderer bin.«
»Das brauchst du nicht. Ich weiß es. Du bist einer, der sonst nur in Legenden existiert.«
»Ja und nein. Ich bin in einer anderen Welt geboren. Ich bin aus ihr gekommen. Ich bin alt. Ich habe mich verwandeln können und mich den Menschen angepaßt. Doch als ich geboren wurde, hat es noch keine Menschen gegeben. Da ist an sie noch nicht gedacht worden, aber es gab schon uns, andere Wesen, die bereits damals danach trachteten, die Herrschaft über die Welt anzutreten. Vor den Menschen waren die Monster, und vor den Monstern herrschte das Chaos. Aber es wurde geteilt. Die eine Hälfte dort, die andere da. Ich gehöre zu der Hälfte, die immer auf der Seite des Siegers steht. Ich bin aus ihr geboren, entstanden, gemacht worden, zu einem Unsterblichen angehoben, doch ich mußte mich den Menschen auch anpassen. Ich konnte nicht mit meiner Gestalt durch die Welt wandern, die sich immer weiter entwickelte und Wesen wie mich negierte. Vielleicht bin ich so etwas gewesen wie die Vorläufer der Vampire, deshalb habe ich mir auch ihre Gestalt ausgesucht und sie zugleich durch das menschliche Aussehen verdeckt. Eine gute Tarnung. Ich kam überall hin, um meine Spuren zu hinterlassen. Ich habe meinen Weg vorbereiten können, und ich werde ihn bis zum Ende gehen, denn ich gehöre zu den Urweltvampiren. Ich stamme aus der Urzeit. Dort wurde der Samen für den Vampirismus gelegt. All die, die nach mir kamen und noch nach mir kommen werden, sind Nichts im Vergleich zu mir. Ich hole die Opfer, ich beiße sie, aber ich beiße sie anders, denn ich reiße ihnen das Blut aus dem Körper. Bei dir hat es nicht geklappt, weil ich einen Widerstand gespürt habe, der zwar neu für mich war, mich aber an etwas Uraltes erinnerte, das in dir steckt. Ja, du hast etwas in dir, das ebenfalls aus einer sehr alten Zeit stammt, als die gesamte verfluchte Schöpfung noch im Werden war, es aber schon die zwei Seite gab.«
Die Erklärungen hatten Estelle fasziniert, und sie hatte ihr Schicksal vergessen.
»Was meinst du damit?« fragte sie und wunderte sich, wie normal ihre Stimme plötzlich klang.
»Andere haben mich…«, er schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde es dir so sagen. In dir steckt jemand, der schon zu meiner Urzeit ein Feind gewesen ist.«
»Wer denn?«
»Die andere Seite. Der Engel.
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