1087 - Blutjagd
Reich der Toten. Ich bin ein anderer. Und jetzt werden wir beide den Zug verlassen.«
Sie wollte nicht. Sie überlegte schon, ob es Sinn hatte, laut zu schreien, dann aber sah sie die auf sich gerichtete Hand, die sie als eine menschliche in Erinnerung hatte. Nun aber war sie dabei, sich zu verändern.
Die Hand sah zwar noch fast aus wie sonst, aber es begann etwas zu wachsen. Eine dünne, grünliche und leicht schuppige Haut, die sich auch an den unteren Enden in den Lücken zwischen den Fingern ausbreitete und dabei an Schwimmhäute erinnerte.
Das war keine Hand mehr, das war schon eine Klaue.
Und die packte zu.
Es war ein harter Griff, der sie erwischte. Die Krallenfinger hatten sich gebogen und sich an der Kleidung festgezerrt. Mit einem Ruck riß Ezra York seine Gefangene zu sich heran. Sie konnte nicht stoppen und fiel gegen ihn.
Er umarmte sie, und dabei lachte er grollend. Und er sprach ihr ins Gesicht. »Ich habe mich entschlossen, dir mein wahres Gesicht zu zeigen. Und eines möchte ich dir noch sagen, Täubchen. Vampire können auch anders töten. Sie brauchen nicht unbedingt das Blut zu trinken. Du wirst es am eigenen Leibe spüren.«
Er ließ keinen Protest mehr zu, denn blitzschnell preßte er ihr die andere Hand auf den Mund. Dann zerrte er sie in den Gang, hatte wenig später die offenstehende Tür erreicht und war in der Dunkelheit verschwunden…
***
Estelle Crighton erlebte eine Hölle!
Die Pranke blieb auf ihrem Mund. Estelle kam nicht dazu, einen Schrei auszustoßen. Atmen konnte sie nur durch die Nase, und sie war auch nicht in der Lage, den Kräften des Blutsaugers Widerstand zu leisten. Er war einfach zu stark.
Ezra York zerrte sie immer weiter vom Zug weg und damit auch von der trügerischen Sicherheit, die nur aus einem Menschen bestand - Bill Conolly. Dem Hubschrauber galt nur ein flüchtiger Gedanke. Es mochte ja sein, daß Hilfe unterwegs war. Bis Estelle allerdings davon profitieren konnte, würde es dauern, und diese Zeitspanne konnte der Vampir nutze. Er würde ihr nicht seine Zähne in den Hals schlagen und versuchen, ihr Blut zu trinken. Aber es gab andere Möglichkeiten, um ihr den Tod zu bringen. Sie brauchte nicht einmal viel Phantasie, um sich diese ausmalen zu können.
York hielt sie gepackt wie einen lästigen Gegenstand, der einfach weggeschafft werden mußte.
Estelle hatte die Veränderung der Hand gesehen, und diese Klaue spürte sie jetzt überdeutlich. Auch weiterhin bohrte sie sich durch die Kleidung. Wie ein aus mehreren Messerspitzen bestehender Gegenstand drückte sie in das Fleisch.
Sie hing seitlich in seinem Griff. Ihre Füße schleiften dabei über den Boden hinweg. Den Bereich des Schotters hatten sie längst verlassen. Estelle, die zum Zug zurückschauen konnte, sah ihn immer weiter entschwinden. Damit ging auch eine Hoffnung für sie Stück für Stück verloren.
Das Gelände stieg etwas an. Ein kleiner Hügel, eine Böschung, nicht mehr. Ihre Füße rutschten darüber hinweg. Die Feuchtigkeit klebte an der Hose, war durch die Strümpfe gedrungen und hatte längst ihre Beine genäßt.
Entfernt hörte sie Stimmen, denn das Geräusch der Hubschraubermotoren war verstummt. Auch die Rotorblätter drehten sich nicht mehr. Sie sah nicht das Licht, das aus den Fenstern des Zuges schimmerte wie eine Kette aus viereckigen Perlen wirkte, und sie konnte die beiden Suchscheinwerfer sehen, die den Zug äußerlich umhüllten, aber nicht wanderten.
Dann schoben sich die ersten Schatten in ihr Gesichtsfeld. Im ersten Augenblick dachte sie, in einem Gefängnis gelandet zu sein, bis ihr einfiel, daß sie einen Wald erreicht hatten.
York schleifte sie zwischen den Bäumen her und warf sie dann zu Boden. Es passierte ohne Vorwarnung. Estelle hatte sich darauf nicht einstellen können. Sie landete hart auf dem Untergrund, der ihr wie ein feuchter Teppich vorkam.
Es dauerte, bis sie sich gefunden hatte. Sie beging nicht den Fehler, aufzustehen, um die Flucht zu versuchen. Ezra York hätte es nicht zugelassen. Irgendwie spürte sie auch, daß der Blutsauger ein Etappenziel erreicht hatte und mit ihr etwas Besonderes vorhatte.
Er bewegte sich nicht. Zwei Schritte entfernt hob sich seine Gestalt vor dem dunklen Hintergrund ab. Die Bäume standen nicht zu dicht. Der größte Teil ihrer Stämme lag frei. Der Bewuchs begann weiter oben, und abermals dachte die junge Frau an eine Gefängnis ohne starre Mauern.
Sie schaute in die Höhe.
Er rührte sich nicht.
York stand
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