1105 - Glendas Totenhemd
Isabella.«
»Das ist nicht schlecht gedacht. Jemand muß in diesem Kleid stecken, auch wenn wir diese Person nicht sehen.«
»Die unsichtbare Isabella?«
Es war nicht einfach, Glenda darauf eine Antwort zu geben, aber das Unmögliche war schon oft in meinem Leben möglich geworden, und so wollte ich auch hier weder zustimmen noch ablehnen. Ich hielt mir eine Option offen.
»Das ist nicht normal, John, du weißt es selbst. Überhaupt gefällt es mir in diesem Laden nicht. Hier ist etwas zurückgelassen worden, das mich stört, und ich bin froh, dich an meiner Seite zu haben. Du hast die Möglichkeiten, um es testen zu können.« Sie deutete auf das Kleid, ohne es anzufassen.
»Je länger ich es betrachte, um so mehr habe ich den Eindruck, es mit einem Totenhemd zu tun zu haben. Ein schönes raffiniertes Totenhemd.«
»Nicht schlecht.«
»Dann stimmst du mir zu?«
»Noch nicht. Das Kleid verbirgt ein Geheimnis. Ich weiß nicht genau, wo, aber jeder Faden, jedes noch so kleine Stück Stoff könnte damit getränkt sein. Sonst könnte es einfach nicht hier so offen stehen, ohne daß ein Inhalt zu sehen ist. Ich will nicht anfangen zu spekulieren, sondern den Test machen.«
»Darauf habe ich gewartet.«
Ich sah Glendas Lächeln, als ich die Kette über meinen Kopf streifte. Das Kreuz hing daran, und mit ihm in der Hand näherte ich mich dem Kleid. Diese Tests gehörten praktisch zu meinem Alltag. Oft genug hatte ich sie durchgeführt und auch immer wieder Überraschungen erlebt.
Eine Erwärmung des Metalls war nicht zu spüren. Kein magischer Einfluß, der das Kleid umgab, was mich schon leicht verwunderte, aber auch beruhigte.
Es war noch ein Fingerbreit Platz, als ich das Kreuz mit einer sehr schnellen Bewegung vorschob.
Der erste Kontakt - und die Reaktion.
Ich hörte Glendas Schrei, und dann war alles anders…
***
Die Welt war leer, staubig und düster. Ein dunkler Himmel stand wie ein Aufpasser über dem Gebiet, aber die Düsternis des Firmaments wurde von einem Netzwerk aus roten Blitzen gespalten, die sich nicht in Bewegung befanden, sondern erstarrt waren.
In dieser Welt lebte nichts. Sie war tot, sie wirkte von Mensch und Tier verlassen. Wer sich hier aufhielt, der schien gekommen zu sein, um zu sterben.
Aber Isabella lebte.
Oder nicht?
Sie war sich selbst nicht klar darüber, ob sie nun normal lebte oder alles nur träumte. Sie ging, sie spürte den leichten Wind, aber sie kam sich dennoch vor, als wäre sie woanders und dabei in einer für sie nicht faßbaren Fremde gelandet. Es gab nichts, an dem sie sich erfreuen konnte. Die Düsternis breitete sich überall aus und schwamm vor ihr wie ein Meer, das erst dort endete, wo es noch dunkler war und sich eine Mauer aus Steinen erhob. Sie wirkte auf Isabella wie ein Wall. Sie stand etwas erhöht. Wie auf einem Hügel erbaut, und sie war zugleich das einzige Ziel in dieser Leere.
Isabella ging darauf zu.
Ging sie wirklich?
Ihr Geist war wach, das logische Denken war geblieben, und sie schaute an sich herab. Zwar mußte sie mit den Füßen den Boden berühren, das war normal beim Laufen, aber sie spürte den Druck nicht. Keinen Widerstand. Isabella schwebte dahin wie ein Geistgeschöpf oder ein Engel, der vom Himmel geflogen war.
In dieser schweren und düsteren Welt kam sie sich wie eine leichte Person vor. Ein Treiben in der Finsternis und der Fremde. Über sich selbst machte sich Isabella keine Gedanken, sie blieb auch nicht stehen und ging einfach weiter.
Die graue Mauer sah sehr fest aus. Durch das rötliche Netzwerk der Adern am Himmel bekam sie noch etwas von diesem Schein ab, der ein leichtes Glühen über den Ort legte.
Schritt für Schritt näherte sie sich dem Ziel. Sie fühlte sich nackt und zugleich angezogen. Wenn sie an sich herabschaute, sah sie einen leichten Schein, ähnlich einem Gazestreifen, der sie schleierhaft umwehte. Es war nichts zu riechen, es war nichts zu schmecken. Die Luft war weder kalt noch warm, sie blieb neutral, und Isabella fühlte sich in dieser seltsamen Welt sogar wohl.
Sie dachte an die Stimmen, die sie gerufen hatten. »Komm zu uns!« hatte es geheißen. »Komm zu uns…«
Aber wo verbargen sich die geheimnisvollen Rufer? Wo hielten sie sich versteckt? Gab es sie überhaupt oder war sie nur irgendwelchen Phantomrufen gefolgt? Seit sie diese Welt erreicht hatte, waren die geheimnisvollen Stimmen verstummt.
Jetzt ging sie durch die Stille, und sie hätte dabei ihre eigenen Schritte hören müssen,
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