1105 - Glendas Totenhemd
Verstehst du?«
»Nur schwer.«
»Es ist auch nicht einfach. Du kennst das ja. Wir sind zwar allein, inoffiziell jedoch nicht.« Sie räusperte sich. »Mal sehen, wie es weitergeht. Kann ja sein, daß sie noch hier auftaucht. Daß sie nur mal kurz weggegangen ist.«
Daran konnte ich nicht so recht glauben. Aber ich gab Glenda recht. An eine Normalität war hier nicht zu denken, und ich zog mich wieder in den Verkaufsraum zurück. Es gab noch eine zweite Tür, die ich mir jetzt vornahm.
Auch sie war nicht abgeschlossen. Als ich sie geöffnet hatte und in den Raum dahinter blickte, war ich enttäuscht. Ein kleines Büro tat sich vor mir auf. Außerdem hingen dort noch einige Klamotten, das war alles.
Langsam drehte ich mich um. Glenda stand vor mir und nagte an der Unterlippe. »Etwas ist noch hier, John. Ich weiß es genau. Wir müssen es finden.«
»Nichts gegen deine Ahnungen, Glenda, aber hast du nicht das Gefühl, daß du alles zu negativ siehst?«
»Nein!«
Ich schloß die Bürotür. Ich fühlte mich sowieso nicht wohl, denn es gefiel mir überhaupt nicht, hier eingedrungen zu sein. Dazu hatten wir kein Recht, und die Verdachtsmomente waren mehr als vage.
Glenda war von einem regelrechten Jagdfieber gepackt worden. Sie ließ sich nicht beirren und suchte jetzt jeden Winkel des Verkaufsraums ab.
Sie schob auch die fahrbaren Ständer zur Seite - und stieß plötzlich einen leisen Schrei aus.
Ich war alarmiert. »Was ist denn?«
Sie winkte mit heftigen Handbewegungen. »Komm mal her, John. Schau dir das Kleid an.«
Ich beeilte mich, stand neben ihr und sah, wie sie nach vorn deutete. Im ersten Moment glaubte ich an eine Täuschung. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder, aber das Bild blieb.
Es war ein Kleid - ja.
Aber es hing nicht über einem Bügel wie es normal gewesen wäre, nein, mit ihm war etwas anderes passiert. Es stand auf dem Boden. Es hätte zusammenfallen müssen, aber es blieb so stehen, wie von Reifen gehalten oder wie über einen Körper gestreift.
Glenda schaute mich an. Ich bemerkte auch, wie sie den Kopf schüttelte. »Verstehst du das, John?«
»Nein.«
Beide schauten wir uns das Kleid genauer an, das aus einem nicht sehr dicken, aber auch aus nicht eben dünnem Stoff bestand. Es lag so in der Mitte, und die Farbe des Kleides konnte man als bleich, weiß und mit einem gelblichen Schimmer darin ansehen. Nicht prunkvoll, sondern schlicht, aber raffiniert, was den Ausschnitt anging. Die Körbchen waren gefüllt, sie beulten sich uns entgegen, und alles wies darauf hin, als läge es um einen Körper. Sogar die dünnen Träger wellten sich auf unsichtbaren Schultern.
Glenda strich leicht über ihre Wange. »Das verstehe ich nicht, John. Nein, das ist mir zu hoch.« Sie lachte leise. »Ich denke, daß wir hier auf der richtigen Spur sind. Wieso steht ein Kleid da, als wäre es von einem Körper ausgefüllt?«
»Keine Ahnung. Aber wir müssen es testen.«
»Wie denn?«
»Nicht berühren.« Ich schob sie etwas aus der Nähe des Kleides zurück, ging allerdings selbst darauf zu, um es zu testen. Der Stoff sah normal aus. Weich und nachgiebig, aber ich war schon vorsichtig, als ich meine Hand darüber hinweggleiten ließ.
Ja, er gab nach. Nur war es mir nicht möglich, das Kleid zusammenzudrücken. Der Stoff setzte mir Widerstand entgegen.
»Was fühlst du?« fragte Glenda.
Ich zuckte die Achseln. »Eigentlich sieht es normal aus, es fühlt sich auch normal an. Trotzdem habe ich den Eindruck, als befände sich jemand darin, den wir nicht sehen.«
»Eine Unsichtbare«, hauchte Glenda und bekam eine Gänsehaut.
»Ja…«
Sie mußte einfach lachen. »Das sagst du so einfach, John. Unsichtbar, das ist ein Wunschtraum und…«
»Laß es. Ich habe schon das Gegenteil erlebt.«
»Ja, ich weiß.« Sie riß sich zusammen. »Was sollen wir jetzt unternehmen?«
»Schließ erst mal die Tür. Ich möchte nicht, daß wir unangemeldeten Besuch bekommen.«
»Und dann?«
Ich gab ihr die Antwort erst, als sie neben mir stand. »Gehen wir doch mal davon aus, daß deine Bekannte verschwunden ist. Sie ist entführt worden und befindet sich irgendwo. Wir suchen sie und sehen hier ein Kleid, das von allein steht und nicht zusammenfällt. Das sind die Fakten. Jetzt brauchen wir sie nur noch zusammenzubringen. Cordelia Millers Verschwinden und das Kleid.«
Sie ließ sich einen Moment Zeit und meinte dann: »So leid es mir tut, aber ich finde keine Brücke. Es fehlt noch jemand. Und das ist
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