1105 - Glendas Totenhemd
was jedoch nicht der Fall war. Schattengleich glitt sie über den Boden hinweg, ohne dabei etwas von dem grauen Staub aufzuwirbeln, der sich überall ausgebreitet hatte.
Auch das Gefühl für Zeit hatte sie verloren. Aber nicht die Fragen, denn ihr Gehirn arbeitete klar und scharf.
Bin ich noch ich? Oder bin ich bereits zu einer anderen Person geworden?
Es war wirklich eine Qual. So stark, daß sie sogar leicht aufstöhnte, aber weiterging, denn der ungewöhliche Aufbau an Steinen lockte sie schon.
Wenn sie ihn erreichen wollte, mußte sie ihn erklettern. Es zog sie auch dorthin, das war wie mit den Stimmen, die sie in ihrem Geschäft gehört hatte.
Als sie noch näher heran war, entdeckte sie, daß der Wall aus Steinen von etwas überragt wurde. Es paßte sich zumindest in der Farbe der Gegend an, aber es war trotzdem anders. Hochkant gestellte Steine überragten die Mauer des Walls. Zwar nicht sehr hoch, aber gut zu sehen und auch von unterschiedlicher Größe.
Steine, die mal an den Oberflächen abgerundet waren, dann wieder sehr kantig wirkten. Mal die Form eines abgeschnittenen Turms mit Deckel aufwiesen, und auch eine wuchtige und kompakte Kreuzform hatten.
Es war ein Friedhof.
Ein uralter Friedhof, der im Nichts lag und schwach von dem rötlichen Licht der erstarrten Blitze angestrahlt wurde. Ein Ort des Grauens und der Starre. Hier hatte der Tod seinen Rastplatz hinterlassen und alles mit seinem grauen Staub überdeckt.
Vor dem Wall blieb sie stehen. Er erinnerte sie an den Steinschutz der Häuser, wie sie ihn in Irland gesehen hatte. Der Wall war aus unterschiedlich großen Steinen errichtet worden. Lehm hielt sie zusammen und hatte eine undurchdringliche Mauer gebildet.
Nicht einmal Gras oder Moos wuchs aus den Ritzen. Hier existierte nichts Freundliches, kein Stück Natur, sondern nur der Staub einer grauen, bösen Welt.
Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Das Gefühl sagte ihr, daß der Friedhof mit seinen alten Grabsteinen auf sie wartete, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Jemand mußte in der alten Erde liegen, tief darin begraben sein und war trotzdem mit seinem Ende nicht zufrieden, denn sie dachte wiederum an die Stimmen, die sie in diese Welt gelockt hatten.
Sie sollte kommen. Sie mußte kommen. Hier war etwas für sie allein bestimmt.
Isabella drehte den Kopf und suchte nach einer Möglichkeit, um an dem Wall in die Höhe steigen zu können. Sie wollte nicht erst groß klettern, sondern es sich so bequem wie möglich machen. Da die meisten Steine aus dem Verbund hervorragten, würde es recht einfach sein, weil sie überall den entsprechenden Halt fand.
Isabella machte sich an den Anstieg, getrieben von der inneren Unruhe, die schon einem Motor glich. Da der Staub sich ebenfalls auf die Steine niedergelegt hatte, waren sie recht rutschig, und so glitt sie zweimal aus.
Aber sie fühlte sich leicht. Es kam ihr auch nicht der Gedanke, sich zu verletzen. Ihr Körper hatte sich aufgelöst, obwohl er noch vorhanden war.
Das zu akzeptieren, war nicht einfach für sie. Aber es hing mit dem Kleid zusammen. Es war der Zauber dieses wunderbaren Stücks, der sie eingefangen hatte.
Bei der Kundin war es nicht passiert. Das Kleid hatte sie nicht haben wollen und sie deshalb verbrannt. Isabella kannte das Spiel bereits. Es war nicht die erste Kundin gewesen, doch immer dann, wenn sie es anprobiert hatte, war in dieser Richtung nichts geschehen. Sie hatte stets die Stimmen gehört. Ihr war auch immer ganz anders geworden, doch nie so direkt und konkret wie jetzt. Diese Welt und das Ziel darin sah sie zum erstenmal.
Den Wall konnte sie leicht hochklettern und blieb dann auf der breiten Kuppe stehen.
Von dieser Stelle aus hatte sie einen perfekten Blick über den Friedhof.
Die Grabsteine standen nicht in Reih und Glied. Niemand hatte den Friedhof nach einem bestimmten Muster angelegt. Sie ragten auch nie sehr gerade aus dem Boden. Die meisten von ihnen sahen aus, als würden sie jeden Moment kippen. Auf alle Steine hatte sich die Schicht aus grauem Staub gelegt.
Hier gab es kein Leben. Es konnte einfach kein Leben geben. Es fehlte zuviel. Sie hatte auf ihrem Weg bisher keinen Tropfen Wasser entdeckt. Es sprudelte keine Quelle, es gab nichts Grünes, und trotzdem existierte so etwas wie Leben.
Sie hatte Stimmen gehört. Geisterstimmen.
Von irgendwoher. Aus der Luft, aus dem Himmel, oder vielleicht aus dem Boden. Waren diejenigen, die hier eigentlich liegen müßten, in Wirklichkeit nicht
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