1108 - Leichengasse 13
geschehen, mein Freund, denn er ist der wahre Herrscher dieser Gasse. Er hat die Menschen unter Kontrolle. Er kann sie manipulieren, sie merken es nur nicht. Er ist immer wieder der große Sieger. Jeder, der hier wohnt, steht längst unter seinem Einfluß. Nur merken es die meisten Menschen nicht. Oder sie wollen es auch nicht wahrhaben. Ich kann es nicht genau sagen, aber sie sind längst nicht mehr Herr ihrer Sinne. Er holt sich alles, was er braucht. Er macht sie fertig, und wenn sie dann reif sind, holt er auch ihre Körper zu sich.«
»Wie bei Ihnen, Chris.«
»Ja, wie bei mir.«
Ich deutete auf die beiden Toten, die er mit keinem Blick bedacht hatte. »Warum mußten sie sterben, und warum leben Sie? Was haben die beiden getan?«
»Sie waren einfach zu neugierig. Er kann es nicht haben, wenn man ihn verfolgt. Er hat sie geholt und sich von ihnen ernährt. Er ist immer noch Ghoul. Zum Teil jedenfalls. Aber er ist auch schon dabei, ein Mensch zu werden. Er hat sich eine Frau geholt, weil er auch wissen will, wie sie denkt und handelt. Er schickte ihr zuerst die Träume, damit sie sich an ihn gewöhnen konnte. Er verwandelte diese Welt. Seine Kräfte sind unbeschreiblich. Er kann Menschen manipulieren, denn er stammt nicht von hier. Er ist ein Erbe, und er ist den Menschen überlegen. Das haben schon die alten Kelten gewußt und ihm deshalb ihre Opfergaben übergeben.«
Ich stellte eine konkrete Frage: »Wie sieht er aus?«
Chris Iron schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand so recht.«
»Ich glaube aber, ihn gesehen zu haben. Er ist gewaltig. Nicht nur groß, sondern auch sehr breit. Er ist ein Untier. Eine mächtige Kreatur aus Schleim und Menschen. Ich sah andere Köpfe durch seinen Körper schimmern. Die Gesichter waren tot, und trotzdem schienen sie zu leben, denn ich entdeckte die Angst in ihnen. Sie zeigten mir das blanke Entsetzen, es war für mich schlimm, dies zu sehen, und ich kann mir vorstellen, wie sehr die Menschen gelitten haben. Er hat sie zu sich geholt, er hat sie getötet, sie müssen einfach tot sein, für mich gibt es keine Erklärung.«
»Er wollte viel wissen.«
»Wie nennen Sie ihn?«
»Den alten Götzen.«
»Ein guter Name, den er wohl auch akzeptiert hat. Ebenso wie Sie akzeptiert worden sind, Chris. Wenn ich Sie vor mir sitzen sehe, dann kann ich zu keinem anderen Schluß kommen. Für mich sind Sie kein Feind des alten Götzen.«
»Warum nicht?«
»Ich habe Sie gesehen, Chris. Wir sind uns vor kurzem in der Leichengasse begegnet. Sie gingen weg, und dann erschien der alte Götze, um Sie zu holen. Er hat es auch geschafft. Aber Sie sind nicht tot wie die anderen, die hier liegen. Sie kehrten zurück, und Sie sitzen nun völlig normal vor mir. Das verstehe ich nicht. Es ist noch ein Rätsel, das ich nicht lösen kann.«
Er schob seinen Mund vor. »Es kann sein, daß ich ihn stoppen will.«
»Schön, ich auch. Als normaler Mensch?«
»Ja.«
»Soll ich das glauben?«
»Das überlasse ich Ihnen.«
»Warum hat er Sie wieder freigelassen und nicht behalten wie Fay Waldon, die Mieterin der Wohnung hier? Wie unterscheiden Sie sich von Fay?«
Er schaute mich an. Ich war gespannt darauf, eine Antwort zu bekommen, doch Chris Iron schwieg.
Er wich meinem Blick allerdings nicht aus und sagte nur: »Akzeptieren sie es, John. Sie müssen es akzeptieren. Noch, es ist besser.«
»Akzeptieren und vertrauen?«
»Ja.«
»Sie können sich vorstellen, daß es mir schwerfällt. Sie wurden von einem Monster geholt und von ihm entlassen. Das zu glauben, fällt mir verdammt schwer. So etwas macht man nicht mit seinen Feinden. Die vernichtet man.«
Er sagte nichts. Ich ahnte, daß ich ihn in die Klemme gebracht hatte. Auch weiterhin war er nicht bereit, auf meine Fragen eine konkrete Antwort zu geben. Statt dessen stand er mit einer ruckartigen Bewegung auf.
»Was ist jetzt?« fragte ich.
»Die Nacht neigt sich allmählich dem Ende zu, und ich weiß, daß sie entscheidend ist. Es bleiben uns nur noch zwei, höchstens drei Stunden. Bis dahin muß es geschafft sein.«
»Was denn?«
»Sie sollten mir vertrauen«, sagte er und ließ mich einfach sitzen. Ein wenig fassungslos schaute ich auf seinen Rücken, als der seltsame Mann zur Tür ging und im Hausflur verschwand. Von dort hörte ich auch seine Schritte nicht mehr.
Er hatte mich sitzenlassen wie einen dummen Schuljungen, und ich merkte, wie Wut in mir hochkochte. Allerdings hielt sie sich in Grenzen. Dieser Chris schien genau zu
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