111 - Wenn das Grauen sich erhebt
möchte Sie um Verzeihung bitten, werde Ihre Strafe aber widerspruchslos hinnehmen.«
»Wohin würden Sie gehen, wenn ich Sie fortschickte?« fragte Blair Sheene. »Sie haben keine Eltern mehr und keine Verwandten, die Sie bei sich aufnehmen würden.«
Mirjana zuckte mit den Schultern. Seufzend erwiderte sie: »Sie meinen wohl, ich hätte mir gestern nacht reiflicher überlegen sollen, was ich tue.«
»Sie haben sich nichts überlegt, handelten intuitiv, nicht wahr?«
»Ja, Miß Sheene«, antwortete Mirjana kleinlaut.
»Sie handelten so, wie Sie glaubten, handeln zu müssen.«
Mirjana schaute die Inernatsleiterin erstaunt an. Hatte sie aus Miß Sheenes Stimme Verständnis herausgehört?
»Genauso war es«, bestätigte das Mädchen. »Es war wie ein…«
»Wie ein innerer Zwang?« half ihr Blair Sheene.
»Ja«, gab Mirjana zu.
»Ich wußte, daß es dazu kommen würde«, sagte die Internatsleiterin.
Mirjana musterte sie verblüfft. »Sie… wußten es?«
»Ich kannte den genauen Zeitpunkt nicht, aber mir war klar, daß Sie früher oder später diesen Weg gehen würden. Je länger es dauerte, desto mehr war ich auf der Hut.«
»Deshalb haben Sie Grace Morton und mich auch sofort erwischt«, sagte Mirjana leise.
Blair Sheene ließ ihre Perlenkette los. »Kommen Sie, Mirjana. Wir wollen uns setzen.«
Sie begab sich mit der Schülerin zu einer chintzbezogenen Sitzgruppe und nahm Platz. Mirjana ließ sich ebenfalls nieder und legte die kalten Handflächen auf ihre Schenkel.
»Sie haben niemanden, stehen ganz allein auf der Welt«, sagte Miß Sheene. »Dennoch riskieren Sie einen Hinauswurf. Warum?«
»Wie ich schon sagte, Miß Sheene… Da war dieser unwiderstehliche Zwang«, antwortete Mirjana.
»Oh ja, ja.« Die Internatsleiterin musterte Mirjana argwöhnisch. »Grace Morton sprach von einem Geräusch, das Sie gehört haben wollten. Haben Sie tatsächlich ein solches Geräusch gehört, Mirjana?«
»Ehrlich gesagt… nein, Miß Sheene.«
»Was war es dann, das Sie in den verbotenen Trakt gelockt hat?« wollte die Internatsleiterin wissen.
»Eine… Stimme. Es war eine Stimme«, sagte Mirjana wahrheitsgetreu. Es hatte keinen Zweck, zu lügen. »Die Stimme eines Mannes. Er rief mich.«
»Sie waren bei ihm! Allein!« sagte Blair Sheene.
Mirjana konnte sich nicht erklären, wieso die Internatsleiterin das wußte. Sie gab es einfach zu.
»Ja, ich war bei ihm, und ich wollte mit Grace Morton noch einmal zu ihm gehen. Ich wollte, daß Grace ihn auch sieht…«
»Weil Ihre Freundin Ihnen nicht glaubte, was Sie ihr erzählten«, sagte Miß Sheene.
Mirjanas dunkle Augen weiteten sich. »Ja«, sagte sie verwirrt. »Aber woher wissen Sie…«
»Ich kann in Ihnen lesen wie in einem offenen Buch«, behauptete Miß Sheene. »Selbst wenn Sie es wollten, könnten Sie vor mir keine Geheimnisse haben, denn ich bin in der Lage, mir Einblick bis in Ihr tiefstes Inneres zu verschaffen. Ich weiß, was Sie denken, wie Sie fühlen. Ich erkenne, wie ich Sie mit dem, was ich Ihnen jetzt sage, verwirre. Ich denke, die Zeit ist reif.«
»Reif? Wofür?« fragte Mirjana unsicher.
»Um Ihnen die Augen zu öffnen«, sagte die Internatsleiterin. »Sie haben gestern nacht zum erstenmal die Stimme des Spuks gehört. Der Geistermann weiß, daß Sie hier in Black Manor leben, und es ist ihm bekannt, daß ihm von Ihnen Gefahr droht.«
»Von mir?« fragte Mirjana ungläubig. »Aus diesem Grund hat er Sie gestern zu sich gelockt, Er wollte Ihnen zuvorkommen.«
»Ich… ich fürchte, ich verstehe nicht, Miß Sheene«, sagte Mirjana nervös. »Wollen Sie damit etwa sagen, er hätte die Absicht gehabt, mich zu töten?«
»Ja, Mirjana, das hatte er vor.«
Das Mädchen schauderte. »Warum…?«
»Er kennt Ihr Geheimnis, Mirjana.«
»Liebe Güte, es gibt kein Geheimnis.«
»Doch, das gibt es«, widersprach Blair Sheene. »Spürten Sie gestern nacht nicht etwas in sich erwachen?«
»Doch… Ich glaube schon…«
Die Internatsleiterin nickte eifrig. »Sehen Sie,«
»Ist das mein Geheimnis? Wissen Sie, was es damit auf sich hat, Miß Sheene? Wissen Sie mehr darüber? Werden Sie mir davon erzählen? Wer ist dieser unheimliche Mann im verbotenen Trakt?«
»Sein Name ist Bartholomew Hall«, sagte Blair Sheene. »Black Manor gehörte vor langer Zeit ihm. Er war zu Lebzeiten ein schlechter, grausamer Mensch, der niemals Gutes tat. Er unterdrückte und peinigte jedermann, war ein Teufel in Menschengestalt und paktierte mit Asmodis, dem
Weitere Kostenlose Bücher