1118 - Zwischen Himmel und Hölle
Hausdach.
Bill erinnerte sich, dass er gesehen hatte, wie der andere noch kurz vor dem Start den Kontakt mit dem Amulett gefunden hatte. Auch an ein Leuchten konnte er sich erinnern, doch diese Gedanken waren jetzt vorbei, als er Vernon Taske auf dem Dach stehen sah. Breitbeinig und mit zur Seite gestreckten Armen.
Der Reporter wusste nicht mehr, was er denken sollte. In seinem Kopf rumorte es. Jeder noch so flüchtige Gedanke kam ihm vor wie ein Hammerschlag. In der kurzen Zeitspanne, in der der Hellseher an ihm vorbeigelaufen war, hatte er noch so etwas wie einen kalten Windstoß gespürt und sich wie eingefroren gefühlt. Das war jetzt vorbei. Bill eilte zu seiner Frau. Nach wie vor saß sie starr auf dem Gartenstuhl.
Bill streichelte über Sheilas Gesicht. Er wollte die Wärme ihrer Haut spüren. Er wollte, dass sie mit ihm redete, doch nichts dergleichen passierte.
Sie nahm ihn nicht wahr. Sie war in sich selbst versunken. Autistisch. Eine lebende Tote. Eine, die sich von den Menschen zurückgezogen hatte und vielleicht nie mehr zu ihnen zurückkehren würde.
Bei dieser Erkenntnis brach Bill fast zusammen. Erst Sarah Goldwyn, jetzt Sheila, seine Frau! Aus seinem Mund drang ein Laut, der schon an ein Heulen erinnerte. In ihm lag all die Qual, die er in diesen Sekunden empfand.
Plötzlich peitschte wahnsinniger Hass auf den Hellseher in ihm hoch. Er ließ Sheila sitzen, er ging zurück, um Taske wieder auf dem Dach zu sehen, doch er war nicht mehr da.
Für kurze Zeit war Bill irritiert. Er wollte ihn suchen. Da hörte er das leise Lachen. Der Reporter fuhr herum.
Vernon Taske stand vor dem Pool. Dem Becken mit der hellen Oberfläche drehte er den Rücken zu. »Wollten Sie nicht schießen, Conolly?«
Bill war nicht mehr fähig, seinen Hass im Zaum zu halten. »Ja, das wollte ich!« brüllte er. »Und das will ich noch immer!« Dann drückte er ab!
***
Jane Collins saß auf einer Bank in einem Wartezimmer des Hospitals.
Die Ärzte hatten sie dorthin geschickt, weil sie zunächst mit der Patientin allein sein wollten. Dafür zeigte auch Jane Verständnis.
Sie grübelte, hielt den Kopf gesenkt und hatte ihre Hände gegen das Kinn gedrückt, während die Ellenbogen die Oberschenkel berührten.
Sie dachte an die Fahrt zum Krankenhaus. Sie hatte im Wagen neben Sarah gesessen, die wie eine Tote auf der Trage gelegen hatte.
Der mitfahrende Arzt hatte sich um die Horror-Oma gekümmert, aber Jane hatte von all seinen Handbewegungen kaum etwas mitbekommen. Sie war auf Sarahs leichenhaft bleiches Gesicht fixiert gewesen.
Jane hatte auf eine Reaktion gewartet, auf ein Lebenszeichen, auch wenn es nur kurz war. Ein Zwinkern der Augen. Ein Lächeln des Mundes. Ein Erkennen vielleicht.
Alles umsonst.
Sarah sah aus wie tot, so dass Jane schon glaubte, dass sie nicht mehr zurück ins Leben kommen würde.
Ein Seufzen und ein Murmeln des mitfahrenden Arztes hatte sie dann aufmerksam werden lassen. Nach einem knappen Blickaustausch hatte er dann das Wort ergriffen.
»Ich verstehe es nicht! Ich verstehe es wirklich nicht. Es ist einfach nicht zu fassen!« Er schüttelte mehrmals den Kopf und hob die Schultern wie jemand, der soeben den Tod eines Patienten erlebt hatte.
Jane musste sich überwinden, um die Frage zu stellen: »Ist sie – tot?«
Der Arzt schwieg eine Weile und atmete schwer. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Aber Sie sind der Fachmann.«
»Das hatte ich bisher auch gedacht.«
»Und jetzt?«
»Bekomme ich Zweifel«, gab der noch junge Mediziner zu. »Eigentlich müsste sie tot sein. Alle Nichtreaktionen deuteten darauf hin, aber es gibt etwas, das mich stutzig macht.«
»Was?«
»Bei einem Toten sinkt die Temperatur, und das relativ schnell. Nicht bei dieser Frau. Wäre sie konstant geblieben, ich hätte nichts gesagt, doch ich habe mehr den Eindruck, als wäre ihre Temperatur dabei, sich allmählich zu erhöhen. Ein Mensch, der sich nicht mehr bewegt, der auch nicht atmet, in dem jedoch ein innerer Ofen brennt. Für mich ist es ein Rätsel.«
»Käme der Begriff Koma den Tatsachen näher?«
»Ja, das würde ich eher sagen.«
Jane wusste nicht, ob sie hoffen oder bangen sollte. »Bei einem Koma gibt es auch Chancen, den Zustand verlassen zu können. Oder sehe ich das zu laienhaft?«
»Chancen sind da, Miss Collins. Nur ist es zumeist unmöglich, sich auf einen Zeitpunkt festzulegen. Es gibt Menschen, deren Koma über Jahre andauert. Sie müssen dann künstlich am Leben erhalten werden. Ich
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