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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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einsammelten, um Herr oder Frau Borstel an «unauffälliger Stelle» wieder auszusetzen, ihn aber darüber aufklären wollten, dass das Tier schon von selbst abgehauen wäre – hätte er es nur in Ruhe gelassen.
    Natürlich gibt es echte Notfälle. Erwähnte ich, dass Enten irgendwie nicht die Hellsten sind? Insbesondere Entenmütter? Sie bekommen es nämlich auch nicht auf die Reihe, dass ihre Federflummies kleiner sind als die Regeneinläufe der Straße: Läuft Mama Ente gemächlich darüber hinweg, purzeln die Kleinen, die ihr wie die Lemminge folgen, in den Gully … Das sind dann die Fälle, in denen unser Eingreifen wirklich notwendig ist.
    Und sollte gerade Brutzeit sein: Nestlinge, zum Beispiel junge Meisen, die schreiend auf der Straße hocken, sind nach Möglichkeit nicht umzusiedeln. Die Küken vieler Vögel werden von den Eltern auch am Boden weiterversorgt, bis sie flügge sind. Kauern die zerrupften Piepser an einer unglücklichen Stelle, setzt man sie einfach an die Seite, am besten in eine Deckung, also vor eine Hecke oder unter einen Baum. Denn entgegen der weit verbreiteten Meinung orientieren sich Vögel nicht so sehr an Gerüchen (das tun Säugetiere wie Rehe weitaus stärker). Daher macht es nichts, wenn man einen Nestling kurz zum Platzwechsel anfasst. Viel schlimmer ist es, wenn jemand auf den Kleinen tritt oder er zu viel Sonne abbekommt. Er muss nur, ich wiederhole mich, in unmittelbarer Nähe des Fundorts bleiben, da die Vogelmutter genau erinnert, wo ihr Nachwuchs den letzten Käfer erhalten hat. Tja, und dann muss man darauf hoffen, dass die Katze den kleinen Schreihals nicht findet.
    Wir Menschen leben nicht alleine in den Städten. Und nicht alle Tiere, die mit uns die urbanen Plätze teilen, gehören in den Käfig. Oft fangen die Probleme für ein «Wildtier» erst an, wenn der Mensch sich über seine scheinbar befremdliche Existenz Gedanken macht. Also: «Wildtiere» anschauen, sich über sie freuen und in Ruhe lassen.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 6 Wieso ich eine Neunzigjährige küsste
    Jeder Führerscheinbesitzer hat im Rahmen seiner Fahrschulstunden einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, später, im Idealfall, noch einen zweiten. Etwa aus beruflichen Gründen. Ist das Wissen, das man in solchen Kursen erlangt, dann allerdings in einem Notfall gefragt, habe ich oft den Eindruck, dass es da ein Problem gibt. Das liegt nicht darin, alles Erlernte vergessen zu haben, sondern vielmehr in der Schwierigkeit, den inneren Schalter für das Notfallwissen zu betätigen. Gerade Ersthelfer realisieren bei einem Unglück nicht immer die Notwendigkeit, etwas Lebenswichtiges tun zu müssen. So kommt es, dass jemand eine Person mit Kreislaufstillstand nicht reanimiert, sondern eine Kompresse auf die kleine Kopfplatzwunde drückt, die sich der Betroffene beim Zusammenbruch zugezogen hat. Denn vor Beginn der Herzdruckmassage müsste man sich ja eingestehen, dass der Mensch, der vor einem am Boden liegt, tot ist – und es auch bleibt, wenn man nichts dagegen unternimmt. Aus Angst, etwas falsch zu machen oder zu verschlimmern, wird die brisante Lage geleugnet. Aber mal ehrlich: Wenn bei einem Menschen das Herz stillsteht, was kann man da noch verschlimmern?
    Dort, wo viele Senioren zusammenwohnen, treten solche ernsten Probleme wie ein Kreislaufstillstand statistisch häufiger auf als etwa in Mietshäusern, in denen viele junge Familien leben. Umso erstaunlicher ist, dass das Pflegepersonal in Altenheimen und Seniorenstiften zum Teil nicht einmal die grundlegenden Erste-Hilfe-Maßnahmen beherrscht beziehungsweise sie anwendet. So wurden wir schon von Nachtschwestern zu Schlaganfällen gerufen, weil ihnen nach der Dienstübernahme bei einem Bewohner «irgendetwas komisch vorkam», und bei näherer Befragung hatte bereits die Frühschicht von Schwierigkeiten des Patienten beim Essen berichtet. Hierzu muss man wissen, dass ein Schlaganfall ein zeitkritischer Notfall ist: Durch eine Durchblutungsstörung im Gehirn werden einige Areale nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt und sterben langsam ab. So kommt es zu typischen Symptomen wie Sprach- und Sehstörungen sowie Lähmung einer Körperhälfte. Je länger ein Schlaganfall unbehandelt bleibt, desto weniger lassen sich die Folgen regenerieren. Nach mehr als vier bis sechs Stunden hat man kaum noch eine Chance, vom geschädigten Hirnareal überhaupt etwas zu reparieren. Mit den daraus resultierenden Behinderungen richtig umzugehen, ist dann gerade für

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