112 - Der tägliche Wahnsinn
trotzdem mitnehmen.»
Wir klemmten uns nach dieser Ansage nur den Koffer unter den Arm und begaben uns ohne Trage ins Heim, immer auf den Fersen der Nachtschwester, zum Notfallort in die zweite Etage. Sie führte uns in eines der Bewohnerzimmer, in dem sich ein Bett, eine kleine Sitzecke und noch anderes Mobiliar befanden. Auf einer Kommode waren einige Familienfotos, verschiedene Pflegeutensilien sowie Handschuhe, Puder und Cremes aufgebaut. Außerdem gehörte zum Zimmer ein kleines Bad. Im Türbereich des Bades lag regungslos auf dem Boden eine dürre Frau, die Beine im Bad, der Oberkörper im Zimmer. Ein runzeliges Fünfundfünfzig-Kilo-Persönchen mit schlohweißen Haaren und rosafarbenem Nachthemd. Sie hatte eine leicht blutende Platzwunde am Hinterkopf. Was sie aber
nicht
hatte: Atmung, Puls und das Übrige, das man zum Leben so braucht.
«Wie ist denn das passiert?», fragte ich die Schwester, während ich am Hals nach dem Puls tastete und versuchte, ein Lebenszeichen zu erkennen.
«Keine Ahnung. Ich habe die Frau so gefunden und Sie dann angerufen», antwortete die Angesprochene ohne großes Interesse.
«Hatte die Dame Vorerkrankungen?»
Die Nachtschwester schaute etwas verständnislos. «Wie jetzt?»
«Herz? Schlaganfälle? Krampfanfälle? So was halt.»
«Weiß ich nicht genau, ich mache hier nur Nachtdienst.»
Was die Ursache für den Notfall war, konnte ich aufgrund der Lage der Heimbewohnerin und meiner Erfahrung aber auch ohne fremde Hilfe schnell beantworten: Die Dame ging zur Toilette, fiel mit «Herz» bewusstlos um und schlug dabei mit dem Hinterkopf an den Türpfosten. Mir war in dem Moment aber nicht klar, warum die Schwester nur eine Platzwunde gemeldet hatte. Immerhin hatte die Gefallene sich bestimmt nicht mehr mit der Schwester über ihre missliche Situation unterhalten können. Wie auch immer: Jetzt standen wir da, ohne EKG , ohne Beatmungsrucksack, ohne Notarzt. Im Koffer befand sich zwar ein ganz tolles Infrarot-Fieberthermometer, mit dem wir in diesem Fall allerdings nicht wirklich glänzen konnten.
Weil Kevin und ich nicht wussten, ob das Herz sofort beim Zusammenbruch zu arbeiten aufgehört hatte (manchmal schlägt das Herz in einer Frequenz weiter, die zumindest ein paar Minuten für einen Notkreislauf sorgt), und die Heimbewohnerin noch Körperwärme hatte, fing ich an, ihr auf die Brust zu drücken. Kevin schickte ich zurück zum Fahrzeug und fügte hinzu: «Hol schnell den Rest der Ausrüstung, und bestell bei der Leitstelle einen Notarzt nach!»
Mein Kollege verschwand, die Nachtschwester hingegen blieb etwas irritiert im Raum stehen und begriff wohl immer noch nicht so recht, was hier geschah. Als mir das auffiel, schickte ich sie hinter Kevin her: «Die automatische Tür unten, die ist doch in der Nacht mit einem Code gesichert, nicht wahr? Der Kollege muss aber raus!»
Daran hatte sie nicht gedacht. «Ach ja, natürlich», stammelte sie und lief Kevin hinterher.
Der Patientin blickte ich in den Rachenraum, um festzustellen, ob die Atemwege frei waren. Dabei sah ich, dass sie ihr Gebiss noch im Mund hatte, und zog es heraus. Anschließend nahm ich aus dem Notfallkoffer eine Kompresse als notdürftigen Beatmungsschutz und näherte mich nach dem nächsten Intervall einer kräftigen Druckmassage dem Antlitz der verwelkten Blume, um als rettender Prinz der «Bochumer Zechenfee 1957 » den Lebensodem durch die Nüstern zu pusten – auch wenn mir dabei etwas schauderte. Aber ich habe nie behauptet, dass mein Beruf immer Spaß macht. Meine weitere Arbeitsmethode bis zu Kevins Rückkehr: die Ein-Helfer-Reanimation. Optimal ist anders.
Die Schwester steckte einige Momente später und wohl erstaunt darüber, dass noch immer kein Pflaster in der Frisur der Dame klebte, den Kopf durch die Tür und fragte, ob sie mir etwas bringen könnte. Ein Stückchen Kuchen vielleicht, blöde Schnepfe, dachte ich voller Groll. Wie konnte man nur so begriffsstutzig sein? Aber selbst wenn ich ihr gesagt hätte, was sie tun könnte – zum Beispiel die Beatmung übernehmen oder in den Unterlagen nach Vorerkrankungen und Medikamentenverordnungen zu recherchieren –, hätte sie kaum etwas Hilfreiches zustande gebracht. Meinen Bemühungen sah sie weiter mit leerem Gesichtsausdruck zu. Er ließ ahnen, dass sie völlig überfordert war.
Die üblichen Fragen nach der bisher bekannten gesundheitlichen Vorgeschichte der Patientin, die ich der Pflegerin nebenher beim Drücken stellte, um vielleicht
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