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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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alte Menschen sehr schwer. Sie verharren im Rollstuhl, weil es ihnen nicht mehr gelingt, anderen Bereichen im Kopf zum Beispiel das Laufen anzutrainieren.
    Aber auch wenn ein Notfall rechtzeitig erkannt wurde, sieht es für den Betroffenen nicht automatisch besser aus. Da wird ein Herz-Kreislauf-Stillstand gern mal auf dem Bett versorgt, die Schwester drückt den Altenheimbewohner beim Reanimieren so heftig in die Matratze, dass der bei Entlastung fast vom Bett abhebt und die beiden gemeinschaftlich auf dem Krankenlager «herumhüpfen» (ein derartiges Vorgehen habe ich sogar bei Hausärzten beobachten können). Ohne harte Unterlage bringt eine Herzdruckmassage, sagen wir es wohlwollend, kaum das, was sie bei einem stabilen Grund erzielen würde. Das Blut wird bei der Kompression nämlich nicht ordentlich aus dem Herzen herausgedrückt, es entsteht kein Ersatzkreislauf, und der Patient hat nichts vom Schweiß des Ersthelfers. Darum muss eine reanimationspflichtige Person aus dem Bett und auf den Boden gehoben werden, damit der Untergrund bei der Wiederbelebung nicht nachgibt. Muss er jedoch aus irgendwelchen Umständen im Bett bleiben, sollte ein Reanimations-Board, ein Kunststoffbrett, unter den Brustkorb geschoben werden. Auf Intensivstationen in Krankenhäusern hängen solche Boards deswegen an der Wand bereit.
    Also: Es gibt fähiges Personal, das sich im Erste-Hilfe-Kurs etwas gemerkt hat und dieses Wissen auch umsetzen kann. Aber wir begegnen zugleich immer wieder Pflegekräften, die bei einem lebensbedrohlichen Notfall «wie ein Ochs vor dem Berg» stehen. Sie überreagieren dann und beschwören bei der kleinsten Platzwunde den Untergang des Abendlandes herauf, oder sie handeln gar nicht. Welchen Pflegepersonaltyp man bei einem Einsatz antrifft, ist jedes Mal eine Überraschung. Daher rechnen wir bei einem Alarmstichwort wie «Bewusstlosigkeit» stets mit dem Schlimmsten. Routinestichworte wie «Hausunfall» oder «Platzwunde nach Sturz» bringen uns seltener aus der Ruhe.
    So war es jedenfalls, als letztere Meldung eines Nachts auf dem klingelnden Pager stand. Kevin und ich hatten uns schon zur Ruhe gelegt (Ruhe = regloser, energiesparender Zustand bei ständiger Aufmerksamkeit und Bereitschaft), als wir alarmiert wurden. Ich schaute auf das Display des Pagers, las den eingegangenen Notfall und sagte: «Hausunfall im Altenheim an der Adenauerstraße. Mann, und das um drei Uhr nachts. Ein ordentlicher Mensch sollte dann schlafen!»
    «Da wollte bestimmt wieder eine Bewohnerin die Nachtschwester nicht belästigen und ist beim Versuch aufzustehen aus dem Bett gefallen», mutmaßte Kevin, während wir zum Rettungswagen liefen.
    Das war nicht von der Hand zu weisen, denn solches war schon häufig vorgekommen: Oma Krause muss nachts auf den Topf, will das aber ohne Hilfe schaffen. Wenn sie sich dann irgendwie aus dem Bett gewälzt hat, fällt sie unsanft auf den Boden. Auf dem weiteren Weg zur Toilette stattet sie mit dem Kopf dem Nachtschrank einen Besuch ab, nicht ohne eine Platzwunde als Ergebnis. Fertig ist der Notfall.
    Als wir im Haus in der Adenauerstraße eintrafen, zogen Kevin und ich die Trage aus dem RTW und legten anschließend den Notfallkoffer darauf. Bei Einsätzen mit Senioren, die in einem Heim leben, nehmen wir die Trage meist gleich mit, da man sie von den räumlichen Möglichkeiten her bis zum Zimmer der betroffenen Person fahren kann. Und viele der Patienten, zu denen wir gerufen werden, können sowieso nicht mehr laufen.
    Gerade wollte ich noch routinemäßig den Beatmungsrucksack auf die Trage legen, da öffnete uns die Nachtschwester gelangweilt die Automatiktür und kam uns langsam entgegengeschlendert. Streng nach hinten gebundene Haare ließen die vielleicht Vierzigjährige älter aussehen, als sie war. Ich möchte nicht sagen, dass sie pummelig wirkte, aber ich hatte den Eindruck, dass sie mit ein Meter fünfundsechzig trotzdem «horizontal benachteiligt» war: Ihr grünweißer Kittel spannte über der Brust, die Waden, die unten aus dem Kittel herauslugten, hatten den Umfang von normalen Oberschenkeln, was durch die kleinen bunten Blümchen auf ihren Schlappen auch nicht kaschiert wurde.
    «Ich glaube, die Trage brauchen Sie nicht», erklärte sie mit etwas zu hoher Stimme. «Lassen Sie die ruhig da, ist alles nicht so wild.»
    Ich warf Kevin einen desillusionierten Blick zu und sagte: «Dann ist die Sache wohl mit einem Pflaster zu regeln. Aber zum Röntgen müssen wir die Dame

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