112 - Der tägliche Wahnsinn
wiederkommen.»
Die Notärztin schaute sich Herrn Deckstein kurz an, wir legten derweil die EKG -Kabel, die Blutdruckmanschette und die Fingerklemme für die Messung des Sauerstoffs im Blut an.
«Wie lange liegt Ihr Mann denn schon in diesem Zustand hier?», fragte die Medizinerin.
«Vor etwa einer Stunde ist er raus und hat sich in den Wintergarten begeben, und als ich später nachgeschaut habe, fand ich ihn so vor. Dem war vorher schon schwindelig gewesen, und er war auch etwas durcheinander. Mein Mann soll jedenfalls sofort ins St. Ansgar-Krankenhaus, wenn was ist. Das hat der Arzt gesagt.» Während sie den letzten Satz wiederholte, wedelte sie mit einer CD : «Da ist alles drauf, die Akten von seiner Operation und auch so Bilder. Die CD muss unbedingt mit.»
Wir hatten einen anderen Verdacht, nachdem das EKG auf den ersten Blick nichts Auffälliges zeigte. Und die Messung mit einem – funktionierenden – Glukometer bestätigte diese Ahnung: Ihr Heinz hatte nicht Herz, sondern Zucker. Oder besser gesagt: keinen Zucker. Der Wert von 55 mg/dl erklärte sein etwas abnormes Verhalten. Die Feststellung der Notärztin war angesichts des Blutzuckerspiegels eigentlich unnötig: «Ihr Mann ist Diabetiker, nicht?»
«Ja, sicher. Aber sein Herz, damit hat er doch so viele Probleme.»
Die Ärztin fing an, dem Patienten eine Glukose-Lösung in die Vene zu spritzen, die ich ihr aufgezogen hatte, während die Ehefrau von Heinz wieder und wieder betonte, dass ihr Mann ins St. Ansgar-Krankenhaus müsse. So langsam erinnerte sie mich mit ihren gebetsmühlenartigen Wiederholungen an den Entführer in
Das Schweigen der Lämmer
, der seinem Opfer in einem Korb eine Lotion überlässt und ständig zu verstehen gibt: «Es reibt sich die Haut mit der Lotion ein. Das muss es machen, wann immer man es ihr sagt.»
Zu dritt versuchten wir sie zu überzeugen, dass der Patient nicht unter einem Herzinfarkt, sondern an den Folgen einer Unterzuckerung litt. Was sich jetzt abspielte, waren zwei Monologe, von einem Dialog konnte keine Rede sein.
«Also, dass Ihr Mann diese Probleme hat, liegt nicht am Herzen, das können wir Ihnen versichern.»
«Aber der muss ins Ansgar, hat der Doktor gesagt!»
«Mit Unterzucker ist es nicht notwendig, dass Ihr Mann in eine Kardiologiestation gebracht werden muss.»
«Und die CD . Die CD dürfen Sie nicht vergessen. Da sind nämlich die ganzen Akten drauf. Seine Untersuchungsbilder, seine Arztbriefe, alles hier gespeichert.»
«Der Zustand Ihres Mannes bessert sich schon. Schauen Sie mal.»
«Da war der letztes Mal auch in Behandlung. Und die haben ihm sehr geholfen.»
«Eine normale internistische Aufnahme reicht zur Behandlung.»
«Der Doktor hat gesagt, wir sollen bei Problemen sofort wieder ins Ansgar kommen.»
Ich zog eine weitere Spritze mit Zuckerlösung auf, die die Notärztin dem Patienten verabreichte.
Frau Deckstein wurde indes langsam fuchsig: «Der Arzt hat gesagt, er muss unbedingt ins St. Ansgar! Hören Sie? Nicht dass Sie mit ihm erst kreuz und quer durch die Stadt spazieren fahren.»
«Genau das kann aber passieren, wenn wir Ihren Mann mit Unterzucker in eine Kardiologie bringen. Unter Umständen werden die ihn dort nicht aufnehmen, da Diabetes nicht deren Fachgebiet ist», versuchte ich erneut, ihr unser geplantes Vorgehen zu erklären.
«Wir haben im St. Ansgar aber sehr gute Erfahrungen gemacht.» Frau Deckstein bestand weiterhin auf ihrem Wunsch.
«Mit Herz, das wäre richtig. Jetzt hat Ihr Mann aber zu wenig Zucker. Und damit müssen wir nicht quer durch die Stadt fahren.»
Die Ehefrau ließ sich nur schwer überzeugen: «Da haben sie uns aber immer gut geholfen. Er muss da wieder hin!»
Heinz, der die ganze Zeit auf der Gartenliege lag, klarte langsam auf, atmete wieder normal und gab – wenn auch undeutlich – Laute von sich. Wir arbeiteten weiter daran, die Anordnungen seiner Frau ins Verhältnis zum Notfall zu setzen. Mittlerweile mussten wir uns fast mehr damit beschäftigen, die überdrehte Dame in die Realität zurückzuholen, als ihren Mann gesundzuspritzen.
Manfred versuchte es mit Kompetenz: «Jetzt atmen Sie erst einmal tief durch. Sehen Sie, wir haben extra eine Notärztin mitgebracht. Die kennt sich aus.»
Ich brummte aus dem Hintergrund: «Die hat Medizin sogar extra studiert …»
«Ja, aber wir haben in dem St. Ansgar-Krankenhaus doch so gute Erfahrungen gemacht! Und der Doktor dort hat gesagt …»
Mittlerweile war meine Laune etwas
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