112 - Der tägliche Wahnsinn
bleiben?» Ich beantwortete seine Fragen, so gut ich konnte. Eigentlich wäre es eine Fahrt für ein Taxi gewesen, da ein «akuter Notfall» im Grunde nicht vorlag: Der Patientin wurde lediglich dann und wann etwas schwindelig. Kreislaufprobleme waren bei ihr schon seit längerem bekannt und daher nichts Neues. Der Ehemann wollte deswegen auch erst später nachkommen.
Nachdem die Patientin und ich im Behandlungsraum des RTW waren, sagte ich durchs kleine Verbindungsfenster zum Fahrerraum: «Steffen, wir können losfahren. Ab ins Ludgeri-Krankenhaus, einmal internistisch.» Steffen sendete der Leitstelle über Funk die Nachricht, dass wir jetzt mit Patientin losfuhren. Oder besser, dass wir losfahren
wollten
. Denn die Abfahrt gestaltete sich etwas schwierig. Auf dem Schnee schlingerte das heckgetriebene rote Auto heftig hin und her, legte mehr Meter seitwärts zurück als vorwärts. Das Fahrzeug fuhr partout nicht den Berg hinauf!
«Ingo, wir haben da ein Problem», rief Steffen nach hinten. «Kannst du mal aussteigen und schauen, ob um das Auto herum noch genug Platz ist? Ich komme hier irgendwie nicht so richtig weg.»
«Mann, hier hinten wird es gerade wieder warm», nörgelte ich, während ich in die kalte Nacht ausstieg.
Der besorgte Ehemann der Patientin, der unsere Schlingerpartie mit angesehen hatte, kam indes im dicken Mantel und in Winterstiefeln mit einem kleinen bunten Eimerchen voll Sand aus der Haustür und fing an, mehr oder weniger taktisch sinnvoll den Baustoff um unseren Wagen zu verteilen. Während ich versuchte, dem Fahrzeug mit einer zusätzlichen Portion Schub im tiefen Schnee die richtige Richtung zu geben, und Steffen sich bemühte, das Auto mit durchdrehenden Reifen nach vorne zu wühlen, wuselte der Ehemann eifrig und gefährlich nahe hinter dem heckseitig wedelnden RTW herum.
«Bitte, bleiben Sie auf Abstand vom Auto, das rutscht unkontrolliert», unterstrich ich nochmals das, was eigentlich jeder sehen sollte. Doch selbst dieses schlenkernde Rettungsvehikel schreckte den wackeren Hobbystraßenmeister nicht davon ab, hinter unserer roten Gurke mit den blauen Warzen herumzuspringen, um auch dort zu streuen. Einige deutliche Aufforderungen meinerseits, diesen gefährlichen Unsinn besser zu unterlassen, fruchteten nicht. Es war ja auch Winter, was fruchtet da schon.
Steffen bemühte sich weiter, dem Fahrzeug seinen Willen aufzuzwingen. Ohne Erfolg. Aber wir hatten noch einen Joker: die Schleuderketten unter dem Fahrzeug, montiert an der Hinterachse. Sie fahren auf Knopfdruck herunter, ein Gummirad mit Kettensträngen legt sich dann an die Reifeninnenseite, und angetrieben durch das Rad werden die Stränge vor den Pneu geschleudert. Zumindest dann, wenn die Dinger auch wirklich herunterfahren.
«Steffen, drück mal die Schleuderketten runter! Vielleicht funktioniert es dann», rief ich meinem Kollegen also zu.
Während unter dem Fahrzeug der Hebelarm für die Apparaturen auf der rechten Seite problemlos hinunterklappte, dachte die Einrichtung auf der linken Seite allerdings überhaupt nicht daran, bei dem Schietwetter ihren verdammten Job zu tun: Sie blieb auf halbem Weg hängen.
«Ich drücke schon seit Ewigkeiten. Was ist da los?», fragte Steffen.
«Die linke Seite will nur halb. Versuch es noch einmal … Boh, ey, der Arm kommt einfach nicht herunter. Noch mal … Mist!»
Wieder und wieder drückte Steffen den Knopf für die Schleuderketten, auf denen jetzt unsere Hoffnung lag, doch noch ohne fremde Hilfe aus diesem Schneeloch zu gelangen. Aber es blieb dabei: Auf der linken Seite fuhr der Arm nur halb herunter. Klar: Wenn die Einrichtung nur zweimal im Jahr gebraucht wird, ist die Mechanik irgendwann festgerostet …
«Es hilft nichts», sagte ich zu Steffen. «Da muss ich Hand anlegen. Halt mal einen Moment still, ich krieche unters Auto. Und wenn ich dir Bescheid gebe, versuchst du wieder, die Dinger runterzuklappen.» So musste ich wohl oder übel höchstpersönlich Überzeugungsarbeit an der Mechanik leisten. Im Anwenden von Gewalt gegen nicht funktionierende Teile sind Feuerwehrleute schließlich ganz groß: Entweder ist nachher alles in Ordnung, oder die Sache ist ein Fall für den Recyclinghof. Ganz oder gar nicht, ist unsere Devise.
So kniete ich im nassen Pappschnee, Flocken wirbelten durch meine verbliebenen Haare, der schmutzige Schneematsch aus den Radkästen troff auf meine Schultern, meine Finger brachen vor Kälte fast ab. Und während der Kollege den «Platz an
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